Der Tod wartet Agatha Christie Hercule Poirot #18 Sie ist eine äußerst unangenehme Person. Sie ist von monströser Gestalt. Sie war einst Gefangniswärterin. Sie tyrannisiert ihre Familie und die gesamte Reisegruppe. Ihr plötzlicher Tod ist eine Erleichterung für alle. Und doch besteht Hercule Poirot darauf, den Mord aufzudecken. Appointment with Death erschien in der englischen Erstausgabe 1938 bei Collins in London. Die deutsche Ausgabe wurde 1944 unter dem Titel »Der Tod wartet« im Scherz Verlag veröffentlicht. Sie wurde bei Erscheinen der Verfilmung umbenannt in »Rendezvous mit einer Leiche oder Der Tod wartet«. Agatha Christie und ihr Mann, Max Mallowan, hatten Petra früher schon besichtigt und die Autorin war von Anfang an fasziniert - ein in einer Schlucht liegender, einsamer Ort - ideal für einen Kriminalfall. Dass daraus dann allerdings ein Roman wurde, der eher auf der psychologischen Ebene spielt, mag überraschen. Auch Petra insgesamt kommt nur am Rande vor. Die Autorin konzentriert sich einmal mehr auf ihre Figuren und den Fortgang der Handlung. Wo andere Autoren Seiten mit historischen Fakten und ausführlichen Beschreibungen der Örtlichkeiten füllen, begnügt sich Agatha Christie mit einer knappen, präzisen Skizze. Die Autorin hat den Roman später selbst für die Bühne bearbeitet; die Premiere fand 1945 am Piccadilly Theatre in London statt. Michael Winner verfilmte den Stoff 1988 mit Peter Ustinov als Hercule Poirot, John Gielgud und Lauren Bacall in weiteren Rollen. Für Richard und Myra Mallock zur Erinnerung an ihre Reise nach Petra Teil I  Erstes Kapitel »Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?« Die Worte wehten hinaus in die stille Nacht, schienen einen Moment in der Luft zu verharren und dann in der Dunkelheit hinunter zum Toten Meer weiterzuziehen. Hercule Poirot, die Hand schon am Fenstergriff, hielt stirnrunzelnd inne. Dann machte er energisch das Fenster zu, um die schädliche Nachtluft auszusperren. Hercule Poirot war in dem Glauben erzogen worden, dass man die Luft von draußen am besten draußen ließ und dass insbesondere Nachtluft der Gesundheit höchst abträglich war. Er lächelte nachsichtig, während er penibel die Vorhänge zuzog und sich zu Bett begab. »Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?« Merkwürdige Worte, die Hercule Poirot, seines Zeichens Privatdetektiv, da zufällig an seinem ersten Abend in Jerusalem belauschte. »Dass ich aber auch immer und überall an Verbrechen erinnert werden muss!«, murmelte er bei sich. Er schmunzelte, da ihm eine Anekdote einfiel, die er einmal über den Romancier Anthony Trollope gehört hatte. Auf einer Atlantiküberquerung hatte Trollope zwei Mitreisende belauscht, die sich gerade über die jüngste Folge eines Romans von ihm unterhielten, der damals in Fortsetzungen erschien. »Nicht übel«, hatte der eine Mann erklärt. »Aber er sollte endlich dieses grässliche alte Weib um die Ecke bringen.« Woraufhin sich der Romancier mit einem breiten Lächeln zu ihnen umgedreht und gesagt hatte: »Meine Herren, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich werde der Dame unverzüglich den Garaus machen!« Hercule Poirot fragte sich, was wohl der Anlass für die Worte gewesen war, die er soeben mit angehört hatte. Vielleicht die Zusammenarbeit an einem Theaterstück oder Buch. Noch immer lächelnd dachte er: »Man könnte sich eines Tages an diese Worte erinnern und ihnen eine finsterere Bedeutung beimessen.« Er entsann sich, dass eine seltsame Nervosität in der Stimme mitgeschwungen hatte — eine Art Zittern, das von starker emotionaler Anspannung zeugte. Die Stimme eines Mannes, eines ziemlich jungen... Als Hercule Poirot die Nachttischlampe ausknipste, dachte er bei sich: Ich würde diese Stimme jederzeit wieder erkennen... Die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt und die Köpfe dicht beieinander, starrten Raymond und Carol Boynton in das nächtliche blaue Dunkel hinaus. Raymond wiederholte nervös seine Frage: »Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?« Carol Boynton machte eine kleine Bewegung. Sie sagte, und ihre Stimme klang tief und rau: »Es ist schrecklich.« »Nicht schrecklicher, als es jetzt ist!« »Wahrscheinlich nicht.« »So kann es nicht weitergehen«, sagte Raymond heftig. »Es kann so nicht weitergehen. Wir müssen etwas unternehmen. Uns bleibt nichts anderes übrig.« »Und wenn wir einfach weggehen würden?«, fragte Carol. Sie merkte selbst, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang. »Das können wir nicht.« Raymonds Stimme war hohl und mutlos. »Du weißt genau, dass das unmöglich ist, Carol.« Die junge Frau erschauerte. »Ich weiß, Ray. Ich weiß.« Er lachte plötzlich kurz und bitter auf. »Die Leute würden sagen, dass wir verrückt sind — nicht einfach auf und davon zu gehen.« Carol sagte langsam: »Vielleicht sind wir - tatsächlich verrückt!« »Allerdings! Ja, ich glaube, das sind wir wirklich. Oder werden es jedenfalls bald sein. Manche Leute würden sogar sagen, dass wir es bereits sind - stehen da und planen kaltblütig und in aller Ruhe, unsere eigene Mutter umzubringen!« Carol sagte scharf: »Sie ist nicht unsere leibliche Mutter!« »Nein, das ist wahr.« Beide schwiegen. Schließlich sagte Raymond, nun in ruhigem und sachlichem Ton: »Dann stimmst du mir zu, Carol?« Carol erwiderte mit fester Stimme: »Ich glaube, sie muss sterben - ja.« Dann brach es plötzlich aus ihr heraus: »Sie ist wahnsinnig. Ich bin ganz sicher, dass sie wahnsinnig ist. Wenn sie normal wäre, könnte sie uns doch nie und nimmer derart quälen. Seit Jahren sagen wir uns: So kann es nicht weitergehen! — Aber es ist so weitergegangen! Immer wieder sagen wir uns: Irgendwann muss sie ja sterben. - Aber sie ist nicht gestorben! Ich glaube, sie stirbt nie, wenn wir.« »Wenn wir sie nicht umbringen«, ergänzte Raymond ruhig. »Ja.« Carols Hände auf dem Fensterbrett ballten sich zu Fäusten. Ihr Bruder sprach mit beherrschter, sachlicher Stimme weiter, in der nur ein leichtes Zittern die heftige innere Erregung verriet: »Du siehst also ein, warum es einer von uns beiden sein muss? Lennox scheidet aus, weil er auf Nadine Rücksicht nehmen muss. Und Jinny können wir nicht hineinziehen.« Carol erschauerte. »Arme Jinny. Ich habe solche Angst, dass sie.« »Ich weiß. Es wird immer schlimmer, stimmt’s? Und darum muss schleunigst etwas geschehen - bevor sie völlig durchdreht.« Carol richtete sich plötzlich auf und strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn. »Ray«, sagte sie, »du bist dir doch ganz sicher, dass es nicht wirklich unrecht ist?« Wiederum mit gewollt leidenschaftsloser Stimme erwiderte er: »Ja. Für mich ist das so, wie wenn man einen tollwütigen Hund tötet - etwas, das nur Schaden anrichtet und dem Einhalt geboten werden muss. Es ist die einzige Möglichkeit, der Sache ein Ende zu machen.« Carol sagte leise:    »Aber wir - wir würden trotzdem dafür auf den elektrischen Stuhl kommen. Ich meine, wie sollen wir irgendjemandem klarmachen, was sie für ein Mensch ist? Es würde einfach zu abwegig klingen. Irgendwie ist das alles doch nur Einbildung!« Raymond sagte: »Niemand wird uns verdächtigen. Ich habe einen Plan. Ich habe alles genau durchdacht. Keiner wird uns etwas anhaben können.« Carol drehte sich abrupt zu ihm um. »Ray, du - du hast dich irgendwie verändert. Irgendetwas ist mit dir passiert. Wer oder was hat dir das alles in den Kopf gesetzt?« »Wie kommst du darauf, dass ich mich verändert habe?« Er wandte den Kopf ab und starrte hinaus in die Nacht. »Weil es so ist. War es die junge Frau im Zug, Ray?« »Nein, natürlich nicht - wieso auch? Red nicht solchen Unsinn, Carol. Sprechen wir lieber wieder über - über - « »Über deinen Plan? Bist du sicher, dass der Plan - gut ist?« »Ja. Ich glaube schon. Natürlich müssen wir die passende Gelegenheit abwarten. Und dann, wenn alles gut geht, werden wir frei sein - wir alle.« »Frei?« Carol seufzte leise. Sie sah hinauf zu den Sternen. Dann wurde sie plötzlich von einem Weinkrampf geschüttelt. »Carol, was hast du?« Schluchzend stieß sie hervor: »Alles ist so wunderschön - die Nacht und der Himmel und die Sterne. Wenn wir doch nur ein Teil davon sein könnten! Wenn wir doch nur wie andere Menschen sein könnten und nicht so, wie wir sind - so sonderbar und verdreht und irgendwie nicht normal.« »Alles wird gut werden - wenn sie erst tot ist!« »Bist du ganz sicher? Ist es dafür nicht schon zu spät? Werden wir nicht immer sonderbar und anders sein?« »Nein, ganz bestimmt nicht!« »Wer weiß.« »Carol, wenn du lieber - « Sie stieß seinen tröstenden Arm weg. »Nein, ich bin dabei - ich stehe auf deiner Seite! Schon allein wegen der anderen - vor allem wegen Jinny. Wir müssen Jinny retten!« Nach einer Weile sagte Raymond: »Dann - ziehen wir die Sache also durch?« »Ja!« »Gut. Mein Plan sieht folgendermaßen aus.« Er beugte sich dicht zu ihr. Zweites Kapitel Miss Sarah King, Doktor der Medizin, stand im Lesezimmer des Hotels Solomon in Jerusalem und blätterte in den auf einem Tisch ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie schien in Gedanken woanders zu sein. Der hoch gewachsene Franzose mittleren Alters, der den Raum von der Halle her betrat, beobachtete sie eine Weile, bevor er zum anderen Ende des Tisches schlenderte. Als sich ihre Blicke trafen, neigte Sarah lächelnd den Kopf, da sie ihn wieder erkannte. Der Mann war ihr bei der Abreise aus Kairo behilflich gewesen und hatte einen ihrer Koffer getragen, als kein Gepäckträger verfügbar zu sein schien. »Nun, wie gefällt Ihnen Jerusalem?«, fragte Dr. Gerard, nachdem sie sich begrüßt hatten. »In mancher Beziehung ist die Stadt grässlich«, sagte Sarah und fügte hinzu: »Religion ist schon etwas Merkwürdiges!« Der Franzose schien amüsiert zu sein. »Ich weiß, was Sie meinen.« Sein Englisch war nahezu perfekt. »Alle erdenklichen Sekten, die miteinander streiten und sich gegenseitig bekriegen!« »Und dazu die scheußlichen Sachen, die sie hier gebaut haben!«, sagte Sarah. »O ja!« Sarah seufzte. »Man hat mich heute aus einer Kirche gewiesen, weil ich ein ärmelloses Kleid anhatte«, sagte sie kleinlaut. »Anscheinend gefallen dem Allmächtigen meine Arme nicht, obwohl er sie doch selbst geschaffen hat.« Dr. Gerard lachte. Dann sagte er: »Ich wollte mir gerade einen Kaffee bestellen. Sie leisten mir doch Gesellschaft, Miss - ?« »King. Sarah King.« »Und ich bin - Sie gestatten.« Er überreichte schwungvoll seine Visitenkarte. Als Sarah sie las, weiteten sich ihre Augen vor ehrfürchtiger Bewunderung. »Dr. Theodore Gerard? Oh! Ich freue mich ja so, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe selbstverständlich alle Ihre Bücher gelesen. Ihre Ansichten über Schizophrenie sind wahnsinnig interessant.« »Wieso selbstverständlich?« Gerard zog fragend die Augenbrauen hoch. Sarah erklärte es ihm leicht befangen. »Weil ich - nun, weil ich selbst Ärztin bin. Ich habe gerade mein Examen gemacht.« »Ah! Ich verstehe.« Dr. Gerard bestellte Kaffee, und sie nahmen in einer Ecke des Salons Platz. Das Interesse des Franzosen galt nicht so sehr Sarahs medizinischen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem schwarzen Haar, das in dichten Wellen herabfiel, und dem wundervoll geschwungenen roten Mund. Die ehrfürchtige Scheu, mit der sie ihn betrachtete, amüsierte ihn. »Bleiben Sie länger hier?«, fragte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen. »Nur ein paar Tage. Danach will ich nach Petra fahren.« »Ah! Daran habe ich auch schon gedacht, falls es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich muss nämlich am vierzehnten in Paris sein.« »Man braucht dafür etwa eine Woche, glaube ich. Zwei Tage für die Hinreise, zwei Tage am Ort und zwei weitere Tage für die Rückreise.« »Ich werde gleich morgen Vormittag zum Reisebüro gehen und mich erkundigen, ob sich etwas arrangieren lässt.« Eine Gruppe von Gästen betrat den Salon und nahm Platz. Sarah beobachtete sie interessiert. Sie senkte die Stimme. »Die Leute, die gerade hereingekommen sind - haben Sie die nicht auch schon im Zug gesehen? Sie sind gleichzeitig mit uns aus Kairo abgereist.« Dr. Gerard klemmte sein Monokel ein und blickte zu der besagten Gruppe hinüber. »Amerikaner?« Sarah nickte. »Ja. Eine amerikanische Familie. Aber eine - ziemlich ungewöhnliche, würde ich sagen.« »Ungewöhnlich? In welcher Beziehung?« »Sehen Sie sie sich doch an. Insbesondere die alte Frau.« Dr. Gerard kam der Aufforderung nach. Sein scharfer geschulter Blick glitt rasch von Gesicht zu Gesicht. Als Erstes fiel ihm ein großer, ziemlich schlaksiger Mann auf, Alter etwa dreißig. Sein Gesicht war sympathisch, aber etwas zu weich, und er wirkte seltsam abwesend. Dann waren da zwei gut aussehende junge Leute. Der Bursche hatte ein geradezu griechisches Profil. »Auch bei ihm scheint etwas nicht zu stimmen«, dachte Dr. Gerard. »Ja - ein klarer Fall von hochgradiger Nervosität.« Das Mädchen war offensichtlich seine Schwester, da eine große Ähnlichkeit vorlag, und auch sie befand sich in einem Zustand höchster Erregtheit. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, jünger als die anderen, mit rotblonden Haaren, die sich wie ein Heiligenschein abhoben. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, rissen und zerrten an dem Taschentuch, das sie auf dem Schoß hielt. Und eine Frau, jung, ruhig, dunkelhaarig, mit hellem Teint und dem sanften Gesicht einer Madonna von Luini. An ihr war nun überhaupt nichts Hektisches! Und im Zentrum der Gruppe -Großer Gott!, dachte Dr. Gerard mit dem ehrlichen Abscheu des typischen Franzosen. »Was für ein entsetzliches Weib!« Alt und fett und aufgedunsen saß sie regungslos im Kreis ihrer Familie - ein hässlicher alter Buddha, eine fette Spinne in ihrem Netz! An Sarah gewandt sagte er: »La maman ist nicht gerade eine Schönheit, wie?«, und zuckte die Schultern. »Sie hat so etwas - etwas Unheimliches, finden Sie nicht auch?«, meinte Sarah. Dr. Gerard musterte die Frau erneut. Diesmal mit dem Auge des Arztes, nicht des Ästheten. »Wassersucht. Kardiale Hydropsie«, setzte er im Fachjargon hinzu. »Ja, sicher, das auch.« Sarah tat den medizinischen Aspekt als unwesentlich ab. »Aber das Verhalten der anderen ihr gegenüber ist irgendwie merkwürdig, finden Sie nicht?« »Wissen Sie, wer die Leute sind?« »Sie heißen Boynton. Mutter, verheirateter Sohn mit Frau, ein jüngerer Sohn und zwei jüngere Töchter.« Dr. Gerard murmelte:    »La famille Boynton auf Weltreise.« »Eine merkwürdige Art, die Welt zu sehen. Sie reden nie mit anderen. Und alle scheinen nur das zu tun, was die alte Frau sagt!« »Sie ist der Typ der Matriarchin«, sagte Gerard nachdenklich. »Sie ist ein ausgemachter Tyrann, wenn Sie mich fragen«, sagte Sarah. Dr. Gerard bemerkte achselzuckend, dass in Amerika die Frau das Heft in der Hand habe - wie ja allgemein bekannt sei. »Ja, sicher, aber es ist nicht nur das«, beharrte Sarah. »Sie ist - sie hat alle so unter ihrer Fuchtel - hält alle so an der Kandare, dass - dass es geradezu pervers ist!« »Zu viel Macht zu haben bekommt Frauen nicht«, stimmte Gerard, plötzlich ernst geworden, zu und schüttelte den Kopf. »Es ist schwer für eine Frau, ihre Macht nicht zu missbrauchen.« Gerard sah sie schnell von der Seite an. Sie beobachtete die Boyntons - oder vielmehr ein bestimmtes Mitglied der Familie. Der Franzose in Dr. Gerard musste verständnisvoll lächeln. Aha! Das war es also! Er erkundigte sich zögernd: »Sie haben mit ihnen gesprochen?« »Ja - zumindest mit einem von ihnen.« »Mit dem jungen Mann - dem jüngeren Sohn?« »Ja. Im Zug von El-Kantara hierher. Er stand im Gang. Da habe ich ihn angesprochen. « Sarahs Einstellung gegenüber dem Leben war offen und unbefangen. Sie interessierte sich für Menschen und war von Natur aus freundlich, wenn auch ungeduldig. »Warum haben Sie ihn angesprochen?«, fragte Gerard. Sarah zuckte mit den Schultern. »Wieso nicht? Ich spreche oft Leute an, wenn ich auf Reisen bin. Menschen interessieren mich eben - was sie tun und denken und fühlen.« »Sie legen sie gewissermaßen unter das Mikroskop.« »So könnte man es nennen«, räumte die junge Frau ein. »Und welchen Eindruck hatten Sie in diesem Fall?« »Tja«, sagte sie zögernd, »es war schon etwas seltsam. Zunächst einmal wurde der junge Mann rot bis über beide Ohren.« »Ist das so verwunderlich?«, fragte Gerard trocken. Sarah lachte. »Sie meinen, er könnte mich für ein leichtes Mädchen gehalten haben, das ihm schamlos Avancen machte? O nein, das glaube ich nicht. Männer erkennen dergleichen doch auf den ersten Blick, habe ich Recht?« Sie sah ihn geradeheraus fragend an. Dr. Gerard nickte bejahend. »Ich hatte das Gefühl«, sagte Sarah langsam und mit leicht gerunzelter Stirn, »dass er - wie soll ich es ausdrücken -aufgeregt und entsetzt zugleich war. Unverhältnismäßig aufgeregt - und gleichzeitig geradezu lächerlich ängstlich. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Ich hatte Amerikaner bisher immer für außergewöhnlich selbstsicher gehalten. Ein zwanzigjähriger Amerikaner kennt sich auf der Welt bei weitem besser aus und hat viel mehr savoir-faire als, sagen wir, ein Engländer dieses Alters. Und der bewusste junge Mann ist bestimmt über zwanzig.« »Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, würde ich sagen.« »So alt?« »Meiner Schätzung nach, ja.« »Vielleicht haben Sie Recht. Aber er kommt mir irgendwie furchtbar jung vor.« »Mental nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Der kindliche Faktor dominiert noch.« »Dann habe ich also Recht? Dass er irgendwie nicht ganz normal ist, meine ich?« Dr. Gerard zuckte mit den Schultern und musste unwillkürlich über den ernsten Ton der Frage lächeln. »Verehrte junge Dame, wer von uns ist schon ganz normal? Aber ich gebe zu, dass es sich hier vermutlich um eine Neurose handelt.« »Die bestimmt irgendwie mit dieser grässlichen alten Frau zusammenhängt.« »Sie scheinen sie nicht sehr zu mögen«, sagte Gerard und sah Sarah eigenartig an. »Stimmt genau. Sie hat so einen - ja, einen bösen Blick.« Gerard murmelte: »Den haben viele Mütter, wenn ihre Söhne sich zu faszinierenden jungen Damen hingezogen fühlen.« Sarah zuckte ungehalten mit den Schultern. Franzosen waren doch alle gleich, dachte sie, immer nur Sex im Kopf! Obwohl sie, als gewissenhafte Psychologin, natürlich zugeben musste, dass bei den meisten Phänomenen unterschwellig stets auch eine sexuelle Komponente im Spiel war. Sarahs Gedanken folgten vertrauten psychologischen Bahnen. Doch dann wurde sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen. Raymond Boynton hatte sich erhoben und ging auf den Tisch mit den Zeitschriften zu. Er wählte eine aus. Als er auf dem Rückweg an Sarahs Sessel vorbeikam, blickte sie auf und sprach ihn an. »Haben Sie heute schon fleißig Sehenswürdigkeiten besucht?« Sie sprach aufs Geratewohl, da es ihr im Grunde nur darum ging, wie ihre Worte aufgenommen wurden. Raymond zögerte, wurde rot, scheute wie ein nervöses Pferd und sah ängstlich zum Mittelpunkt seiner versammelten Familie hinüber. Er stammelte: »Oh - o ja - äh, sicher, natürlich. Ich.« Dann eilte er so abrupt, als hätte man ihm die Sporen gegeben, mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zu seiner Familie zurück. Die groteske Buddha-Figur hielt ihre fette Hand nach der Zeitschrift auf, doch als sie sie entgegennahm, ruhten ihre Augen, wie Dr. Gerard bemerkte, auf dem Gesicht des jungen Mannes. Sie gab eine Art Grunzen von sich, das sich keinesfalls nach Dank anhörte. Ihr Kopf drehte sich kaum merklich zur Seite. Dr. Gerard sah, wie sie Sarah scharf musterte. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung. Es war unmöglich zu sagen, was im Kopf dieser Frau vorging. Sarah schaute auf ihre Uhr und stieß einen leisen Schrei aus. »Es ist ja viel später, als ich dachte!« Sie stand auf. »Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee, Dr. Gerard. Ich muss noch Briefe schreiben.« Er erhob sich und nahm ihre Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte er. »Ganz bestimmt! Vielleicht kommen Sie ja mit nach Petra?« »Ich werde es auf alle Fälle versuchen.« Sarah lächelte ihm zu und ging. Ihr Weg führte sie am Tisch der Boyntons vorbei. Dr. Gerard, der ihr nachsah, bemerkte, dass Mrs. Boyntons Augen wieder zu ihrem Sohn wanderten und dass sich ihre Blicke trafen. Als Sarah vorbeiging, drehte Raymond leicht den Kopf - nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg. Es war eine langsame, widerwillige Bewegung, die den Eindruck vermittelte, die alte Mrs. Boynton hätte an einem unsichtbaren Draht gezogen. Sarah King bemerkte den ausweichenden Blick, und sie war noch jung und unbefangen genug, um sich darüber zu ärgern. Sie hatten sich im schwankenden Gang des Schlafwagens so nett unterhalten. Sie hatten ihre Eindrücke von Ägypten ausgetauscht, hatten über die komische Sprache der Eselstreiber und Straßenhändler gelacht. Sarah hatte geschildert, wie ein Kamelführer, der sie erwartungsvoll und unverschämt gefragt hatte: »Du englisch Lady oder amerikanisch?«, zur Antwort bekommen hatte: »Nein, Chinesin.« Und welches Vergnügen es ihr bereitet hatte, als der Mann sie daraufhin völlig entgeistert anstarrte. Der junge Boynton hatte wie ein netter, eifriger Schuljunge auf sie gewirkt -tatsächlich hatte sein Eifer etwas Rührendes gehabt. Und nun war er, ohne jeden ersichtlichen Grund, auf einmal linkisch, flegelhaft - ja geradezu ungezogen. In Zukunft kann er mir gestohlen bleiben, sagte sich Sarah empört. Denn obwohl Sarah nicht über Gebühr eingebildet war, hatte sie doch eine ziemlich hohe Meinung von sich. Sie wusste genau, dass sie auf das andere Geschlecht ausgesprochen anziehend wirkte, und sie gehörte nicht zu denen, die sich eine Brüskierung stillschweigend gefallen lassen! Vielleicht war sie doch eine Spur zu freundlich zu dem jungen Mann gewesen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte er ihr Leid getan. Aber nun stand eindeutig fest, dass er nichts weiter als ein ungezogener, hochnäsiger, flegelhafter junger Amerikaner war! Statt die erwähnten Briefe zu schreiben, nahm Sarah King an ihrem Frisiertisch Platz, kämmte sich das Haar aus der Stirn, blickte in zwei aufgebrachte haselnussbraune Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und nahm ihr derzeitiges Leben unter die Lupe. Sie hatte gerade eine schwierige seelische Krise durchgemacht. Einen Monat zuvor hatte sie ihre Verlobung mit einem vier Jahre älteren Arzt gelöst. Sie hatten sich sehr zueinander hingezogen gefühlt, waren sich aber vom Temperament her zu ähnlich gewesen. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien waren an der Tagesordnung gewesen. Sarah besaß ein zu herrisches Naturell, um den selbstverständlichen Autoritätsanspruch eines anderen einfach hinzunehmen. Wie so viele temperamentvolle Frauen glaubte Sarah, dass sie Stärke bewunderte. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie beherrscht werden wollte. Als sie dann einen Mann kennen lernte, der sie beherrschen konnte, stellte sie fest, dass ihr das ganz und gar nicht behagte! Die Verlobung aufzulösen war sehr schmerzlich für sie gewesen, aber sie war scharfsichtig genug, um einzusehen, dass Gefühle allein keine ausreichende Basis waren, um darauf ihr Lebensglück aufzubauen. Um schneller darüber hinwegzukommen, hatte sie sich ganz bewusst eine interessante Auslandsreise gegönnt, bevor sie allen Ernstes ins Berufsleben eintrat. Sarahs Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Ich bin gespannt, dachte sie, ob mir Dr. Gerard erlaubt, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Er hat wirklich Hervorragendes geleistet. Ich hoffe nur, dass er mich ernst nimmt. Vielleicht klappt es - falls er nach Petra mitkommt. Dann dachte sie wieder an den merkwürdigen ungehobelten jungen Amerikaner. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel, dass die Anwesenheit seiner Familie ihn zu der seltsamen Reaktion veranlasst hatte, aber sie verachtete ihn trotzdem ein klein wenig. Derart unter der Fuchtel der eigenen Familie zu stehen war doch wirklich grotesk - insbesondere für einen Mann! Und doch. Sie wurde von einem eigenartigen Gefühl beschlichen. Irgendetwas an der ganzen Sache konnte einfach nicht normal sein! Plötzlich sagte sie laut: »Der junge Mann muss gerettet werden! Dafür werde ich sorgen!« Drittes Kapitel Nachdem Sarah den Salon verlassen hatte, blieb Dr. Gerard noch einige Minuten an seinem Platz sitzen. Dann ging er gemächlich zu den ausliegenden Zeitungen hinüber, griff nach der neuesten Ausgabe von Le Matin und schlenderte damit zu einem Sessel in der Nähe der Boyntons. Seine Neugierde war geweckt. Zunächst hatte er sich über das Interesse der jungen Engländerin an der amerikanischen Familie amüsiert und haarscharf den Schluss gezogen, dass dies auf ihr Interesse an einem bestimmten Mitglied der Familie zurückzuführen war. Doch nun erregte etwas Ungewöhnliches an dieser Familie das tiefer gehende, unparteiischere Interesse des Wissenschaftlers in ihm. Er spürte, dass er es hier mit einem psychologisch interessanten Fall zu tun hatte. Hinter seiner Zeitung versteckt, nahm er die Gruppe diskret in Augenschein. Zunächst den jungen Mann, für den sich die attraktive Engländerin so offenkundig interessierte. Ja, dachte Gerard, eindeutig der Typ, der von Natur aus anziehend auf sie wirken musste. Sarah King war eine starke Persönlichkeit - sie besaß innere Ausgeglichenheit, einen klaren Verstand und einen eisernen Willen. Den jungen Mann schätzte Dr. Gerard als sensibel, scharfsichtig, unsicher und leicht beeinflussbar ein. Dem sachkundigen Blick des Arztes entging nicht, dass der junge Mann sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung befand. Dr. Gerard fragte sich, warum. Es war ihm ein Rätsel. Aus welchem Grund sollte ein junger Mann, der sich allem Anschein nach bester Gesundheit erfreute, der doch angeblich zum Vergnügen im Ausland war, in einer Verfassung sein, die auf einen unmittelbar bevorstehenden N ervenzusammenbruch schließen ließ? Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Mitgliedern der Familie zu. Das junge Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren war offensichtlich Raymonds Schwester. Die beiden waren sich vom Typ her sehr ähnlich - zartgliedrig, gut gewachsen, aristokratische Gesichtszüge. Sie hatten die gleichen schmalen, wohlgeformten Hände, die gleiche klare Kinnlinie und Kopfhaltung, den gleichen langen, schlanken Hals. Aber auch das Mädchen war nervös. Sie machte ständig unwillkürliche fahrige Bewegungen, und unter ihren unnatürlich glänzenden Augen lagen tiefe Schatten. Wenn sie sprach, klang ihre Stimme hektisch und eine Spur atemlos. Sie war wachsam - auf der Hut - unfähig, sich zu entspannen. »Und sie hat Angst«, schloss Dr. Gerard. »Ja, sie hat Angst!« Er schnappte Gesprächsfetzen auf, Bruchstücke einer ganz alltäglichen, normalen Unterhaltung. »Wollen wir nicht Salomos Ställe besuchen?« - »Wird das Mutter auch nicht zu viel werden?« - »Und morgen Vormittag vielleicht die Klagemauer?« - »Und natürlich den Tempel - vielmehr die OmarMoschee, wie er jetzt heißt. Warum eigentlich?« - »Weil er in eine moslemische Moschee umgewandelt wurde, Lennox, darum.« Die üblichen, ganz alltäglichen Touristengespräche. Und doch hatte Dr. Gerard das merkwürdige Gefühl, dass die aufgeschnappten Gesprächsfetzen allesamt etwas Irrationales hatten. Sie waren Tarnung - eine Maske für etwas, das dahinter wogte und brodelte, zu abgründig und formlos, um es in Worte zu fassen. Wieder warf er, im Schutze von Le Matin, einen verstohlenen Blick hinüber. Lennox? Das musste der ältere Bruder sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Geschwistern war nicht zu verkennen, aber es bestand ein wesentlicher Unterschied: Lennox war nicht so unruhig wie die anderen. Dr. Gerard kam zu dem Schluss, dass er ein stabileres Nervenkostüm besaß. Aber auch er hatte etwas Merkwürdiges. Er wies keinerlei Anzeichen körperlicher Angespanntheit auf, wie dies bei seinen Geschwistern der Fall war. Er saß gelöst da, schlaff. Verwirrt ging Gerard seine Erinnerungen an Patienten durch, die er so in Krankensälen hatte sitzen sehen, und dachte: Er ist erschöpft — ja, erschöpft vom langen Leiden. Der Blick in seinen Augen -dieser Blick eines verletzten Hundes oder eines kranken Pferdes - stummes kreatürliches Erdulden. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Körperlich scheint bei ihm alles in Ordnung zu sein. Dennoch besteht kein Zweifel, dass er in letzter Zeit viel gelitten hat - und zwar seelisch. Jetzt leidet er nicht mehr, er erträgt nur noch stumm, wartet - vermutlich darauf, dass das Schicksal erneut zuschlägt. Aber in welcher Form? Bilde ich mir das alles nur ein? Nein, dieser Mann wartet auf etwas, auf das nahende Ende. So liegen Krebspatienten im Bett und warten, dankbar dafür, dass ein Medikament ihre Schmerzen ein wenig lindert. Lennox Boynton stand auf und hob das Wollknäuel auf, das der alten Dame heruntergefallen war. »Bitte, Mutter.« »Danke.« Was strickte sie da eigentlich, diese monströse phlegmatische alte Frau? Irgendetwas Dickes und Grobes. Gerard dachte: »Fäustlinge für Armenhäusler!« Er musste über seine eigene Phantasie lächeln. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied der Gruppe zu, dem Mädchen mit den rotblonden Haaren. Sie war etwa neunzehn. Ihre Haut besaß die wundervolle Reinheit, die so oft mit roten Haaren einhergeht. Ihr Gesicht war sehr schön, wenn auch viel zu schmal. Sie saß da und lächelte vor sich hin - lächelte ins Leere. Ein eigenartiges Lächeln. Es war so weit weg vom Hotel Solomon, von Jerusalem. Es erinnerte Dr. Gerard an etwas. Dann fiel es ihm schlagartig ein. Es war das seltsame überirdische Lächeln, das auf den Lippen der Karyatiden auf der Akropolis in Athen liegt. Der Zauber dieses Lächelns, die absolute Regungslosigkeit des jungen Mädchens gaben ihm einen kleinen Stich. Doch dann fiel sein Blick auf ihre Hände, und es traf ihn wie ein Schock. Für die anderen Familienmitglieder waren sie durch den Tisch verdeckt, aber Dr. Gerard konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen. Die Hände lagen auf dem Schoß des jungen Mädchens und zupften - zupften und rissen ein zartes Taschentuch in winzige Fetzen. Gerard war zutiefst bestürzt. Das abwesende, gedankenverlorene Lächeln, der absolut reglose Körper - und die geschäftigen, zerstörerischen Hände. Viertes Kapitel Plötzlich war ein gedehntes asthmatisches Keuchen zu hören, und die monströse strickende Frau sagte: »Ginevra, du bist müde. Du solltest zu Bett gehen.« Das Mädchen zuckte zusammen, die Finger hielten in ihrem mechanischen Zupfen inne. »Ich bin noch nicht müde, Mutter.« Gerard registrierte anerkennend, wie melodisch die Stimme war. Sie besaß jenen lieblichen, singenden Klang, der selbst den alltäglichsten Bemerkungen einen Zauber verleiht. »Doch, das bist du. Ich merke es dir immer an. Ich glaube nicht, dass du morgen irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigen kannst.« »Aber das kann ich ganz bestimmt! Mir fehlt nichts.« Mit dumpfer, rauer Stimme - einer beinahe krächzenden Stimme - sagte ihre Mutter: »O doch. Du wirst wieder krank werden.« »Nein, ganz bestimmt nicht!« Das Mädchen begann heftig zu zittern. Eine sanfte, leise Stimme sagte: »Ich gehe mit dir nach oben, Jinny.« Die ruhige junge Frau mit den großen, nachdenklichen grauen Augen und der adretten dunklen Haarrolle erhob sich. Die alte Mrs. Boynton sagte: »Nein. Sie geht allein nach oben.« Das Mädchen rief verzweifelt: »Aber ich möchte, dass Nadine mitkommt!« »Dann begleite ich dich natürlich.« Die junge Frau trat einen Schritt vor. Die alte Frau sagte: »Das Kind zieht es vor, allein hinaufzugehen - nicht wahr, Jinny?« Es trat Stille ein. Dann sagte Ginevra Boynton mit einer Stimme, die plötzlich ausdruckslos und hohl war:    »Ja, ich möchte lieber allein gehen. Vielen Dank, Nadine.« Sie entfernte sich, eine große, eckige Gestalt, die sich erstaunlich anmutig bewegte. Dr. Gerard ließ die Zeitung sinken und gestattete sich einen langen Blick auf die alte Mrs. Boynton. Sie sah ihrer Tochter nach, und auf ihrem aufgeschwemmten Gesicht zeichnete sich ein sonderbares Lächeln ab, der Hauch einer Karikatur des reizenden überirdischen Lächelns, das noch vor wenigen Augenblicken das Antlitz des Mädchens verklärt hatte. Dann wanderten die Augen der alten Frau zu Nadine, die wieder Platz genommen hatte. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Schwiegermutter. Ihr Gesichtsausdruck blieb absolut gleichmütig, doch der Blick der alten Frau war voller Bosheit. Dr. Gerard dachte: Was für eine unsägliche alte Tyrannin! Und dann waren die Augen der alten Frau plötzlich direkt auf ihn geheftet, so daß er jäh den Atem anhielt. Kleine glühende schwarze Augen starrten ihn an, die etwas ausstrahlten, eine Energie, eine starke Kraft, eine Woge hinterlistiger Bösartigkeit. Dr. Gerard wusste um die Macht der Persönlichkeit. Er erkannte, dass es sich hier nicht um eine verwöhnte, tyrannische Kranke handelte, die ihren Launen und Marotten freien Lauf ließ. Diese alte Frau war eine starke Kraft. In der Bösartigkeit ihres starren Blickes spürte er eine Ähnlichkeit mit der Wirkung, die eine Kobra auslöst. Mrs. Boynton mochte alt, leidend, für Krankheiten anfällig sein, aber sie war keinesfalls machtlos. Sie war eine Frau, die wusste, was Macht war, die ihr Leben lang Macht ausgeübt und nie auch nur einen Moment an ihrer eigenen Stärke gezweifelt hatte. Dr. Gerard hatte einmal eine Frau kennen gelernt, die außerordentlich gefährliche und spektakuläre Dressurnummern mit Tigern vorführte. Die großen geschmeidigen Raubkatzen waren auf ihre Plätze geschlichen und hatten ihre entwürdigenden und demütigenden Kunststücke gezeigt. In ihren Augen und in ihrem leisen Fauchen lag Hass, erbitterter, fanatischer Hass, aber sie hatten gehorcht, sich geduckt. Die besagte Frau war jung gewesen, eine arrogante dunkelhaarige Schönheit, aber sie hatte den gleichen Blick gehabt. Une dompteuse, sagte Dr. Gerard bei sich. Und nun verstand er, was unter der harmlosen Unterhaltung der Familie gebrodelt hatte. Es war Hass - ein dunkler, reißender Strom von Hass. Er dachte: Die meisten Leute würden mir eine blühende Phantasie bescheinigen! Da genießt eine ganz gewöhnliche, nette amerikanische Familie ihren Aufenthalt in Palästina - und ich spinne mir eine finstere Geschichte zusammen! Dann musterte er neugierig die stille junge Frau namens Nadine. Sie trug einen Ehering, und während er sie betrachtete, sah er, wie sie dem hellhaarigen, schlaksigen Lennox einen viel sagenden Blick zuwarf. Da verstand er. Die beiden waren miteinander verheiratet. Aber es war eher der Blick einer Mutter als der einer Ehefrau - ein wahrhaft mütterlicher Bück, fürsorglich, besorgt. Und ihm wurde noch etwas klar. Er erkannte, dass Nadine Boynton die Einzige in der Familie war, die nicht im Banne ihrer Schwiegermutter stand. Sie mochte die alte Frau nicht besonders mögen, aber sie hatte keine Angst vor ihr. Ihre Macht konnte Nadine nichts anhaben. Sie war unglücklich, in großer Sorge um ihren Mann, aber sie war frei. Dr. Gerard sagte bei sich: Das ist alles höchst interessant. Fünftes Kapitel Dr. Gerards düstere Überlegungen wurden abrupt durch etwas ganz Alltägliches unterbrochen. Ein Mann betrat den Salon, entdeckte die Boyntons und ging auf sie zu. Es war ein sympathischer Amerikaner mittleren Alters und vom Typ her durch und durch konventionell. Er war sorgfältig gekleidet, hatte ein schmales glatt rasiertes Gesicht und eine bedächtige, angenehme, wenn auch etwas eintönige Stimme. »Ich habe Sie schon überall gesucht«, sagte er. Akribisch schüttelte er der ganzen Familie die Hand. »Und wie fühlen Sie sich heute, Mrs. Boynton? Nicht zu müde von der Bahnfahrt?« Beinahe huldvoll stieß die alte Dame pfeifend hervor:    »Nein, danke der Nachfrage. Aber Sie wissen ja, dass es um meine Gesundheit nie gut bestellt ist.« »Gewiss. Wirklich bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich.« »Aber es geht mir zumindest nicht schlechter.« Mit einem bedächtigen heimtückischen Lächeln fügte sie hinzu: »Die gute Nadine kümmert sich hingebungsvoll um mich, nicht wahr, Nadine?« »Ich tue mein Bestes.« Nadines Stimme war ausdruckslos. »Na, das glaube ich Ihnen aufs Wort!«, sagte der Fremde jovial. »Also, Lennox, was halten Sie von der Stadt König Davids?« »Ach, ich weiß nicht recht.« Lennox’ Ton war apathisch, desinteressiert. »Finden sie wohl etwas enttäuschend, wie? Ich muss gestehen, dass es mir zunächst auch so ging. Aber vielleicht haben Sie nur noch nicht viel davon gesehen?« Carol Boynton sagte: »Wegen Mutter können wir nicht allzuviel unternehmen.« Mrs. Boynton erläuterte: »Zwei Stunden am Tag sind das Äußerste, was ich mir an Besichtigungen zumuten kann.« Der Fremde sagte herzlich: »Ich finde es großartig, dass Sie überhaupt so viel schaffen, Mrs. Boynton!« Mrs. Boynton ließ ein bedächtiges, pfeifendes Glucksen hören, das beinahe hämisch klang. »Ich gebe meinem Körper eben nicht nach! Das, worauf es ankommt, ist der Geist! Jawohl, der Geist...« Ihre Stimme erstarb. Gerard sah, wie Raymond Boynton nervös zuckte und sich dann erkundigte: »Waren Sie schon an der Klagemauer, Mr. Cope?« »Aber ja, das war eine der ersten Stätten, die ich besucht habe. Ich hoffe, Jerusalem in einigen Tagen abgehakt zu haben, und lasse mir bei Cooks gerade eine Rundreise zusammenstellen, damit ich alles vom Heiligen Land sehe - Bethlehem, Nazareth, Tiberias, See Genezareth. Das wird sicher ungeheuer interessant. Dann natürlich Gerasa, ein hochinteressanter Ruinenkomplex - aus der Römerzeit, wissen Sie. Und ich möchte mir unbedingt Petra anschauen, die rosarote Stadt, soll ein höchst bemerkenswertes Naturwunder sein, wie man so hört - und ohne den üblichen Touristenrummel -, aber man braucht eine knappe Woche, um hin- und zurückzukommen und alles gründlich zu besichtigen.« Carol sagte: »Ich würde zu gern hinfahren. Es muss wunderbar sein!« »Also ich würde sagen, dass sich ein Besuch dort eindeutig lohnt - jawohl, eindeutig.« Mr. Cope hielt inne, warf rasch einen leicht zweifelnden Blick auf Mrs. Boynton und fuhr dann mit einer Stimme fort, die für den lauschenden Franzosen auffallend unsicher klang: »Ich überlege gerade, ob ich nicht einige von Ihnen dazu bewegen könnte mitzukommen. Mir ist natürlich klar, dass es für Sie zu viel wäre, Mrs. Boynton, und natürlich wird der eine oder andere aus Ihrer Familie bei Ihnen bleiben wollen, aber wenn Sie Ihre Truppe sozusagen teilen würden.« Er hielt inne. Gerard hörte das gleichmäßige Klappern von Mrs. Boyntons Stricknadeln. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass wir das möchten. Wir bleiben gern zusammen.« Sie sah auf. »Oder was meint ihr, Kinder?« In ihrer Stimme lag ein merkwürdiger Ton. Die Antworten kamen auf der Stelle. »Nein, Mutter.« »O nein!« »Nein, auf gar keinen Fall!« Mrs. Boynton lächelte wieder auf diese merkwürdige Art und sagte: »Da sehen Sie es - sie wollen mich nicht allein lassen. Und wie steht es mit dir, Nadine? Du sagst ja gar nichts.« »Nein, danke, Mutter. Es sei denn, dass Lennox fahren möchte.« Mrs. Boynton drehte den Kopf langsam nach ihrem Sohn um. »Nun, Lennox, was ist? Warum fahrt ihr beiden nicht mit? Nadine scheint viel daran zu liegen.« Lennox fuhr zusammen, blickte auf. »Ich - äh - nein, ich - ich glaube, wir bleiben lieber alle beieinander.« Mr. Cope sagte fröhlich: »Also das nenne ich wirklich eine mustergültige Familie!« Doch in der Fröhlichkeit schwang ein hohler und gezwungener Unterton mit. »Wir bleiben eben gerne unter uns«, sagte Mrs. Boynton. Sie begann ihr Wollknäuel aufzurollen. »Ach, Raymond, wer war übrigens die junge Frau, die dich vorhin angesprochen hat?« Raymond schreckte nervös zusammen. Er wurde rot und dann blass. »Ich - ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie -sie war im gleichen Zug wie wir.« Mrs. Boynton begann sich langsam aus ihrem Sessel zu wuchten. »Ich glaube nicht, dass wir viel mit ihr zu tun haben werden«, sagte sie. Nadine stand auf und half der alten Frau beim Aufstehen. Sie ging dabei so sachkundig und geschickt vor, dass es Gerards Aufmerksamkeit erregte. »Schlafenszeit«, sagte Mrs. Boynton. »Gute Nacht, Mr. Cope.« »Gute Nacht, Mrs. Boynton. Gute Nacht, Mrs. Lennox.« Die kleine Prozession entfernte sich. Es schien keinem der jüngeren Familienmitglieder in den Sinn zu kommen, noch zu bleiben. Mr. Cope stand da und sah ihnen nach. Auf seinem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck. Wie Dr. Gerard aus Erfahrung wusste, sind Amerikaner von Natur aus umgängliche Menschen. Sie sind nicht so ängstlich und misstrauisch, wie Engländer es auf Reisen sind. Für einen Mann mit Dr. Gerards Taktgefühl war es daher nicht weiter schwierig, Mr. Copes Bekanntschaft zu machen. Der Amerikaner war allein und, wie die meisten seiner Landsleute, bereit, umgänglich und aufgeschlossen zu sein. Dr. Gerard zückte wieder seine Visitenkarte. Mr. Jefferson Cope war gebührend beeindruckt, als er den Namen las. »Dr. Gerard! Waren Sie nicht erst kürzlich in den Staaten?« »Im letzten Herbst. Ich habe in Harvard Vorlesungen gehalten.« »Natürlich! Sie sind eine der namhaftesten Persönlichkeiten auf Ihrem Gebiet, Dr. Gerard. Und in Paris dürften Sie der führende Vertreter Ihres Fachs sein.« »Sie sind wirklich zu gütig, mein Lieber! Ich muss mich dagegen verwahren.« »Aber ganz und gar nicht! Es ist mir eine große Ehre, Sie kennen zu lernen. Im Moment sind ja eine ganze Reihe bekannter Leute in Jerusalem. Zum einen Sie selbst, dann Lord Welldon und Sir Gabriel Steinbaum, der Finanzmagnat. Außerdem der bekannte alte englische Archäologe Sir Manders Stone. Und Lady Westholme, eine prominente englische Politikerin. Und natürlich der berühmte belgische Privatdetektiv Hercule Poirot.« »Der kleine Hercule Poirot? Der ist hier?« »Ich habe seinen Namen in der hiesigen Zeitung gelesen und dass er erst vor kurzem eingetroffen ist. Alle Welt scheint derzeit im Solomon zu logieren. Ein wirklich erstklassiges Haus, muss ich sagen. Und sehr geschmackvoll eingerichtet.« Mr. Jefferson Cope unterhielt sich offensichtlich prächtig. Dr. Gerard war ein Mann, der sehr viel Charme entfalten konnte, wenn er es darauf anlegte. Und so begaben sich die beiden Herren schon nach kurzer Zeit in die Bar. Nach einigen Highballs sagte Gerard: »Sagen Sie, war das eine typische amerikanische Familie, mit der Sie vorhin sprachen?« Jefferson Cope nippte nachdenklich an seinem Drink. Dann sagte er: »Eigentlich nicht. Nein, absolut typisch würde ich sie nicht nennen.« »Nein? Sie scheinen alle sehr aneinander zu hängen.« Mr. Cope sagte bedächtig: »Sie meinen, weil alles um die alte Dame zu kreisen scheint? Das stimmt allerdings. Sie ist ja auch eine ganz erstaunliche alte Dame.« »Tatsächlich? « Mr. Cope ließ sich nicht lange bitten. Gerards kleine Ermunterung genügte völlig. »Ich will gerne zugeben, Dr. Gerard, dass mir diese Familie in letzter Zeit ziemlich viel im Kopf herumgeht. Ich habe lange über sie nachgedacht. Offen gesagt würde es mir gut tun, wenn ich mit Ihnen darüber reden könnte. Natürlich nur, wenn es Sie nicht langweilt!« Dr. Gerard wies diesen Gedanken weit von sich. Mr. Jefferson Cope sprach bedächtig weiter, und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine gewisse Ratlosigkeit ab. »Ich will Ihnen gleich sagen, dass ich ein bisschen besorgt bin. Mrs. Boynton ist nämlich eine alte Freundin von mir. Nicht die alte Mrs. Boynton, sondern die junge, die Frau von Lennox Boynton.« »Ah, Sie meinen die reizende dunkelhaarige junge Dame.« »Genau. Nadine Boynton. Nadine ist ein wunderbarer Mensch, Dr. Gerard. Ich kannte sie schon vor ihrer Heirat. Sie arbeitete damals im Krankenhaus, war in der Ausbildung zur Krankenschwester. Irgendwann verbrachte sie dann ihren Urlaub bei den Boyntons und heiratete Lennox.« »Tatsächlich? « Mr. Jefferson Cope nippte wieder an seinem Highball und fuhr fort: »Ich würde Ihnen gerne ein bisschen mehr über den Hintergrund der Familie Boynton erzählen, Dr. Gerard.« »Ja? Das würde mich sehr interessieren. « »Wissen Sie, der verstorbene Eimer Boynton, ein ziemlich bekannter Mann und ein sehr liebenswürdiger Mensch, war zweimal verheiratet. Seine erste Frau starb, als Carol und Raymond noch ganz klein waren. Wie man hört, soll die zweite Mrs. Boynton eine gut aussehende Frau gewesen sein, als er sie heiratete, wenn auch nicht mehr gerade jung. Schwer vorstellbar, dass sie mal gut ausgesehen haben soll, wenn man sie jetzt so sieht, aber ich habe es aus zuverlässiger Quelle. Jedenfalls hielt ihr Mann große Stücke auf sie und verließ sich fast in allem auf ihr Urteil. Vor seinem Tod war er jahrelang leidend, und in der Zeit hatte sie praktisch das Heft in der Hand. Sie ist sehr tüchtig und hat eine gute Nase für geschäftliche Dinge. Und dazu sehr gewissenhaft. Nach Eimers Tod widmete sie sich ganz und gar den Kindern. Eins davon ist von ihr -Ginevra, das hübsche rothaarige Mädchen, aber ein bisschen zart. Nun, wie gesagt, Mrs. Boynton widmete sich nur noch ihrer Familie. Sie kapselte sich einfach vollkommen von der Welt ab. Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gerard, aber ich halte das nicht unbedingt für sehr vernünftig.« »Ich stimme Ihnen zu. Auf die geistige Entwicklung junger Menschen wirkt sich dergleichen sehr negativ aus.« »Genau, Sie haben es auf den Punkt gebracht. Mrs. Boynton schirmte die Kinder von ihrer Umwelt ab und ließ sie nie mit Außenstehenden in Berührung kommen. Das Resultat ist, dass alle - nun ja, irgendwie verstört sind. Verschreckt, wenn Sie wissen, was ich meine. Können sich mit niemand anfreunden. Und das ist schlecht.« »Sehr schlecht sogar.« »Ich bezweifle ja nicht, dass Mrs. Boynton es gut meinte. Aber sie hat es mit der Fürsorge übertrieben.« »Leben alle noch zu Hause?«, fragte der Arzt. »Ja.« »Und die Söhne arbeiten nicht?« »O nein. Eimer Boynton war ein reicher Mann. Er hinterließ sein gesamtes Vermögen Mrs. Boynton auf Lebenszeit -aber es galt natürlich als ausgemacht, dass das Geld für den Lebensunterhalt der Familie ganz allgemein ist.« »Das heißt, dass alle finanziell von ihr abhängig sind?« »So ist es. Und sie hat alle darin bestärkt, zu Hause zu bleiben und sich nicht nach einer Arbeit umzusehen. Das mag vielleicht in Ordnung sein, Geld ist ja genug vorhanden, keiner von ihnen muss arbeiten, aber ich finde, dass Arbeit zumindest für einen Mann eine sehr bekömmliche Arznei ist. Und da ist noch etwas: Keiner von ihnen hat irgendwelche Hobbies. Sie spielen nicht Golf. Sie gehören keinem Club an. Sie gehen weder zu Tanzveranstaltungen noch unternehmen sie sonst etwas mit anderen jungen Leuten. Sie leben in einem riesigen Kasten mitten auf dem Land, meilenweit vom nächsten Ort entfernt. Ich sage Ihnen, Dr. Gerard, mir scheint das völlig falsch zu sein.« »Ich stimme Ihnen zu«, sagte Dr. Gerard. »Keiner von ihnen hat auch nur das geringste gesellschaftliche Bewusstsein. Keinerlei Gemeinsinn - ja, genau das fehlt ihnen! Sie mögen ja ein harmonisches Familienleben führen, aber alle miteinander sind völlig in sich selbst versunken.« »War nie die Rede davon, dass der eine oder andere von ihnen auf eigenen Füßen stehen wollte?« »Nicht, dass ich wüsste. Sie hocken einfach nur rum.« »Geben Sie die Schuld daran den Kindern oder Mrs. Boynton?« Jefferson Cope rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Na ja, in gewisser Hinsicht glaube ich schon, dass mehr oder weniger sie dafür verantwortlich ist. Die Art, wie sie sie erzogen hat, war nicht richtig. Trotzdem, wenn ein Bursche erwachsen wird, dann liegt es an ihm, eigene Wege zu gehen. Ein junger Mann sollte nicht dauernd am Rockzipfel seiner Mutter hängen. Er sollte aus eigenem Antrieb unabhängig sein wollen.« Dr. Gerard sagte nachdenklich: »Vielleicht ist das nicht möglich.« »Warum nicht?« »Weil es Mittel und Wege gibt, Mr. Cope, einen Baum am Wachsen zu hindern.« Cope starrte ihn an. »Aber sie sind alle gesund und munter, Dr. Gerard!« »Der Geist kann ebenso in der Entwicklung gehemmt werden und verkümmern wie der Körper.« »Auch geistig ist bei ihnen alles in Ordnung.« Jefferson Cope fuhr fort: »Nein, Dr. Gerard, glauben Sie mir, jeder Mensch hat sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Mann mit Selbstachtung geht seinen eigenen Weg und fängt etwas mit seinem Leben an. Er hockt nicht bloß rum und dreht Däumchen. Vor so einem Mann kann eine Frau doch keine Achtung haben.« Gerard sah ihn einen Moment lang merkwürdig an. Dann sagte er: »Beziehen sich Ihre Worte insbesondere auf Mr. Lennox Boynton?« »Ja, ich dachte dabei tatsächlich an Lennox. Raymond ist ja fast noch ein Kind. Aber Lennox wird bald dreißig. Höchste Zeit, dass er zeigt, was in ihm steckt.« »Für seine Frau ist das vermutlich nicht leicht.« »Ganz bestimmt nicht! Nadine ist ein feiner Mensch. Ich bewundere sie mehr, als ich sagen kann. Sie hat sich noch nie auch nur mit einem Wort beklagt. Aber sie ist nicht glücklich, Dr. Gerard! Unglücklicher als sie kann man gar nicht sein.« Gerard nickte zustimmend. »Ja, damit könnten Sie Recht haben.« »Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gerard, aber ich finde, dass alles seine Grenzen hat und dass sich eine Frau nicht mit allem abfinden muss! Wenn ich Nadine wäre, würde ich das Lennox mal unmissverständlich klarmachen. Entweder er reißt sich zusammen und zeigt, aus welchem Holz er geschnitzt ist, oder.« »Oder aber sie sollte ihn verlassen, wollen Sie sagen?« »Sie muss auch an sich selbst denken, Dr. Gerard. Wenn Lennox sie nicht so zu schätzen weiß, wie sie es verdient - nun, andere Männer wüssten es.« »Beispielsweise - Sie selbst?« Der Amerikaner wurde rot. Dann sah er den anderen mit einer Art stiller Würde offen an. »Ja«, sagte er. »Ich schäme mich meiner Gefühle für Nadine nicht. Ich habe große Achtung vor ihr und bin ihr aufrichtig zugetan. Ich will nur, dass sie glücklich ist. Wenn sie mit Lennox glücklich wäre, würde ich mich zurückziehen und von der Bildfläche verschwinden.« »Aber?« »Aber so wie die Dinge liegen, halte ich mich in Bereitschaft! Wenn sie mich braucht, werde ich da sein!« »Der Ritter ohne Furcht und Tadel«, murmelte Gerard. »Wie bitte?« »Mein lieber Freund, Ritterlichkeit findet man heutzutage nur noch bei Ihnen in Amerika! Sie sind es zufrieden, der Dame Ihres Herzens auch ohne Aussicht auf Belohnung zu dienen! Höchst bewundernswert, in der Tat! Was genau hoffen Sie, für die Dame tun zu können?« »Ich will einfach zur Stelle zu sein, wenn sie mich braucht.« »Und wie, wenn ich fragen darf, verhält sich die alte Mrs. Boynton Ihnen gegenüber?« Jefferson Cope sagte bedächtig: »Ich bin mir nie ganz klar über sie. Wie ich schon sagte, hält sie nichts davon, Kontakte mit Außenstehenden zu haben. Aber bei mir ist es anders. Zu mir ist sie immer sehr freundlich und behandelt mich fast wie ein Familienmitglied.« »Das heißt, sie billigt Ihre Freundschaft mit der jungen Mrs. Boynton?« »Ja.« Dr. Gerard zuckte die Schultern. »Ist das nicht etwas merkwürdig?« Jefferson Cope erwiderte förmlich: »Ich darf Ihnen versichern, Dr. Gerard, dass diese Freundschaft nicht im Entferntesten ungehörig ist. Sie ist rein platonisch.« »Ich bitte Sie, mein Lieber, davon bin ich überzeugt! Dennoch wiederhole ich, dass es sonderbar ist seitens Mrs. Boyntons, diese Freundschaft zu ermutigen. Mrs. Boynton interessiert mich - sie interessiert mich sogar sehr, Mr. Cope.« »Sie ist wirklich eine erstaunliche Frau. Sie hat sehr viel Charakterstärke - und eine ausgeprägte Persönlichkeit. Wie gesagt, Eimer Boynton vertraute ihr vollkommen. « »So sehr, dass er bereit war, ihr seine Kinder in finanzieller Hinsicht auf Gedeih und Verderb auszuliefern. In meinem Land, Mr. Cope, wäre dergleichen von Rechts wegen unmöglich.« Mr. Cope stand auf. »Wir Amerikaner«, sagte er, »glauben nun einmal fest an absolute Freiheit.« Dr. Gerard erhob sich ebenfalls. Mr. Copes Worte machten keinen Eindruck auf ihn. Er hatte sie schon früher gehört, von Menschen unterschiedlichster Nationalität. Die Illusion, Freiheit sei das Vorrecht des jeweils eigenen Volkes, ist ziemlich weit verbreitet. Dr. Gerard war klüger. Er wusste, dass kein Volk, kein Staat und kein Mensch wahrhaft frei zu nennen ist. Aber er wusste auch, dass es unterschiedliche Grade der Unfreiheit gibt. Nachdenklich und neugierig zugleich ging er hinauf in sein Zimmer. Sechstes Kapitel Sarah King stand auf dem Tempelberg, dem Haram esh-Sharif. Hinter ihr lag der Felsendom. Das helle Plätschern der Brunnen drang an ihr Ohr. Grüppchen von Touristen gingen vorbei, ohne den Frieden der orientalischen Atmosphäre zu stören. Seltsam, dachte Sarah, dass einst ein Jebusiter diesen felsigen Hügel als Tenne benutzt und dass David ihn für 50 Silberschekel gekauft und dort einen Altar errichtet hatte. Und jetzt war hier das Stimmengewirr der Besucher aus aller Herren Länder zu vernehmen. Sie drehte sich um und betrachtete die Moschee, die sich nun über dem Heiligtum erhob, und fragte sich, ob Salomos Tempel auch nur halb so schön gewesen sein konnte. Schritte waren zu hören, und eine kleine Gruppe trat aus der Moschee ins Freie. Es waren die Boyntons, begleitet von einem geschwätzigen Dragoman. Mrs. Boynton wurde von Lennox und Raymond gestützt. Dahinter kamen Nadine und Mr. Cope. Den Abschluss bildete Carol. Als sie weitergingen, entdeckte letztere Sarah. Sie zögerte, machte dann, einem plötzlichen Entschluss folgend, kehrt und lief rasch und geräuschlos über den Platz. »Verzeihen Sie«, sagte sie atemlos. »Ich muss - ich wollte - ich muss mit Ihnen reden.« »Ja?«, sagte Sarah. Carol zitterte heftig. Ihr Gesicht war sehr blass. »Es geht um - um meinen Bruder. Als Sie ihn gestern Abend ansprachen, müssen Sie ihn für - für sehr unhöflich gehalten haben. Aber das war nicht seine Absicht. Er - er konnte nur nicht anders. Bitte glauben Sie mir!« Für Sarah hatte Carols Auftritt etwas Absurdes. Er beleidigte nicht nur ihren Stolz, sondern auch ihren guten Geschmack. Wie kam eine wildfremde Person dazu, auf sie loszustürmen und eine lächerliche Entschuldigung für ihren flegelhaften Bruder vorzubringen? Sie hatte schon eine spontane Bemerkung auf den Lippen, doch dann schwang ihre Stimmung plötzlich um. Hier schien ein besonderer Fall vorzuliegen. Das junge Mädchen meinte es todernst. Die Neigung, die Sarah veranlasst hatte, den Arztberuf zu ergreifen, machte sie hellhörig für die Not des Mädchens. Ihr Instinkt sagte ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Aufmunternd sagte sie: »Wollen Sie mir nicht Näheres erzählen?« »Er hat im Zug mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?«, begann Carol. Sarah nickte. »Ja. Genau gesagt habe ich ihn angesprochen.« »Das dachte ich mir. Anders herum hätte ich es mir auch kaum vorstellen können. Aber, wissen Sie, gestern Abend hatte Ray einfach Angst - « Sie brach ab. »Angst?« Carols blasses Gesicht rötete sich. »Ach, das klingt bestimmt absurd - oder verrückt. Meine Mutter ist nämlich - also, es geht ihr nicht besonders - und sie mag es nicht, wenn wir uns mit anderen Leuten anfreunden. Aber - aber ich weiß, dass -dass Ray Sie gerne besser kennen lernen würde.« Sarahs Neugierde war geweckt. Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Carol fort: »Ich - was ich da sage, klingt bestimmt sehr komisch, aber wir sind eine - eine ziemlich eigenartige Familie.« Sie blickte sich schnell um - voller Angst. »Ich - ich muss gehen«, murmelte sie. »Die anderen könnten etwas merken.« Sarah fasste einen Entschluss. »Warum bleiben Sie nicht noch ein bisschen«, sagte sie, »wenn Sie das möchten? Wir können doch gemeinsam zum Hotel zurückgehen.« »O nein!« Carol wich zurück. »Das - das kann ich nicht.« »Warum denn nicht?«, fragte Sarah. »Das kann ich auf gar keinen Fall! Meine Mutter wäre -wäre sicher - « Ruhig und deutlich sagte Sarah: »Ich weiß, dass es Eltern manchmal furchtbar schwer fällt zu begreifen, dass ihre Kinder erwachsen sind. Sie wollen deren Leben unbedingt auch weiterhin bestimmen. Aber, wissen Sie, es ist ein Fehler, nachzugeben. Man muss für seine Rechte eintreten!« Carol sagte leise: »Sie verstehen nicht -Sie haben ja keine Ahnung.« Sie rang nervös die Hände. »Manchmal«, fuhr Sarah fort, »gibt man nach, weil man keinen Streit haben will. Auseinandersetzungen sind unangenehm, aber ich finde, dass die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, es alle Mal wert ist, dass man um sie kämpft.« »Freiheit?« Carol starrte sie entgeistert an. »Von uns ist keiner jemals frei gewesen. Und wir werden es auch nie sein.« »So ein Unsinn!«, sagte Sarah bestimmt. Carol beugte sich vor und berührte ihren Arm. »Hören Sie. Ich will versuchen, es Ihnen begreiflich zu machen. Vor ihrer Ehe war meine Mutter - meine Stiefmutter, genauer gesagt - Aufseherin in einem Gefängnis. Mein Vater war der Direktor und heiratete sie. Und daran hat sich nie etwas geändert. Sie war auch weiterhin Aufseherin - unsere Aufseherin. Und darum leben wir wie - wie im Gefängnis!« Sie blickte sich abermals hastig um. »Sie haben etwas gemerkt. Ich - ich muss gehen.« Sarah hielt ihren Arm fest, als sie fortlaufen wollte. »Warten Sie. Wir sollten uns irgendwo treffen und miteinander reden.« »Das geht nicht. Das kann ich nicht.« »O doch!«, sagte Sarah gebieterisch. »Kommen Sie heute Abend vor dem Zubettgehen zu mir. Zimmer 319. Nicht vergessen: 319.« Sie ließ Carols Arm los, die daraufhin ihrer Familie nacheilte. Sarah blickte ihr lange nach. Plötzlich merkte sie, dass Dr. Gerard neben ihr stand. »Guten Morgen, Miss King. Wie ich sehe, haben Sie sich mit Miss Carol Boynton unterhalten. « »Ja. Ein höchst merkwürdiges Gespräch. Ich muss es Ihnen erzählen.« Sie wiederholte den wesentlichen Inhalt ihrer Unterhaltung mit dem jungen Mädchen. Einen entscheidenden Punkt griff Gerard sofort auf. »Aufseherin in einem Gefängnis war das alte Nilpferd? Das könnte durchaus von Bedeutung sein.« »Sie meinen, dass das der Grund für ihr tyrannisches Verhalten ist?«, sagte Sarah. »Dass es ihr aufgrund ihrer früheren Tätigkeit zur Gewohnheit wurde?« Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, das hieße, die Sache aus dem falschen Blickwinkel betrachten. Wir haben es hier mit einem starken inneren Zwang zu tun. Sie liebt die Tyrannei nicht, weil sie Gefängnisaufseherin war. Sagen wir lieber, sie wurde Gefängnisaufseherin, weil sie die Tyrannei liebt. Nach meiner Theorie war es das heimliche Verlangen, Macht über andere Menschen auszuüben, das sie veranlasste, diesen Beruf zu ergreifen.« Mit ernster Miene fuhr er fort: »So viele seltsame Dinge sind tief im Unterbewusstsein begraben. Die Gier nach Macht, der Drang, andere zu quälen, das triebhafte Verlangen, zu zerstören und zu vernichten - das ganze Erbe unseres kollektiven Unbewussten. All das liegt hier vor, Miss King, Grausamkeit und Zerstörungswut und Gier. Wir halten sie hinter verschlossenen Türen und verdrängen sie aus unserem Bewusstsein, aber manchmal - manchmal sind sie übermächtig.« Sarah erschauerte. »Ich weiß.« »Es begegnet uns heutzutage überall - in Parteiprogrammen, in der politischen Führung der Staaten. Eine Reaktion gegen humanitäre Prinzipien, gegen Mitleid, gegen Nächstenliebe. Manchmal klingen die Programme gut - ein kluges System, eine wohltätige Regierung, aber gewaltsam aufoktroyiert und basierend auf einem Fundament aus Grausamkeit und Furcht. Sie stoßen die Türen auf, diese Apostel der Gewalt, sie lassen Nachsicht walten gegenüber der alten Barbarei, der alten Lust nach Grausamkeit um ihrer selbst willen! Gewiss, es ist nicht leicht - der Mensch ist ein sehr fein ausbalanciertes Geschöpf. Und er will vor allem eins -überleben. Zu schnell vorzugehen ist ebenso fatal, wie zurückzubleiben. Er muss überleben! Vielleicht muss er sich dazu etwas von der alten Barbarei bewahren, aber er darf sie nie - und zwar unter gar keinen Umständen - zu seinem Abgott machen!« Nach einer Weile sagte Sarah: »Glauben Sie, dass die alte Mrs. Boynton eine Sadistin ist?« »Dessen bin ich mir fast sicher. Ich glaube, es bereitet ihr Vergnügen, andere zu quälen - seelisch zu quälen, wohlgemerkt, nicht körperlich. Das kommt sehr viel seltener vor, und es ist sehr viel schwieriger, damit umzugehen. Sie genießt es, andere in ihrer Gewalt zu haben, und sie genießt es, sie leiden zu lassen.« »Das ist ja abscheulich!«, sagte Sarah. Gerard erzählte ihr von seinem Gespräch mit Jefferson Cope. »Er durchschaut also nicht, was da vor sich geht?«, erkundigte sie sich zögernd. »Wie sollte er? Er ist kein Psychologe.« »Stimmt. Er denkt nicht in so grässlichen Kategorien wie wir!« »Genau. Er denkt wie ein netter, rechtschaffener, empfindsamer, normaler Amerikaner. Er glaubt an das Gute statt an das Böse. Er sieht zwar, dass mit dem Familienleben der Boyntons etwas nicht in Ordnung ist, aber er unterstellt Mrs. Boynton übertriebene Liebe und Fürsorge statt gezielte Böswilligkeit.« »Das würde sie sicher amüsieren«, sagte Sarah. »Ganz bestimmt sogar!« »Wieso lassen sie sich das eigentlich gefallen?«, sagte Sarah ungehalten. »Sie könnten doch weggehen.« Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, da irren Sie sich. Das können sie nicht. Ist Ihnen das alte Experiment mit dem Hahn bekannt? Man malt einen Kreidestrich auf den Boden und drückt den Hahn mit dem Schnabel darauf. Der Hahn glaubt, dort angebunden zu sein. Er kann den Kopf nicht heben. Genau so geht es diesen unglücklichen jungen Menschen. Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Frau auf sie eingewirkt hat, seit sie Kinder waren. Und ihre Dominanz war geistiger Natur. Sie hat sie so hypnotisiert, dass sie überzeugt sind, ihr immer gehorchen zu müssen. Oh, ich weiß, die meisten Leute würden sagen, dass das Unsinn ist - aber Sie und ich wissen es besser. Sie hat sie glauben gemacht, dass die totale Abhängigkeit von ihr eine unabänderliche Tatsache ist. Sie sind schon so lange in ihrem Gefängnis, dass sie es gar nicht merken würden, wenn das Gefängnistor plötzlich offen wäre! Einer von ihnen zumindest will überhaupt nicht mehr frei sein! Und alle hätten Angst vor der Freiheit.« Sarah fragte nüchtern:    »Und was passiert, wenn sie stirbt?« Gerard zuckte mit den Schultern. »Das kommt darauf an. Nämlich, wie bald dieser Fall eintritt. Wenn er jetzt einträte, dann wäre es, glaube ich, noch nicht zu spät. Der zweite Sohn und die ältere Tochter sind noch jung und beeinflussbar. Aus ihnen könnten, meiner Meinung nach, ganz normale Menschen werden. Bei Lennox ist es möglicherweise bereits zu spät. Er wirkt auf mich wie ein Mann, der alle Hoffnung aufgegeben hat, der lebt und duldet wie eine stumme Kreatur.« »Aber seine Frau hätte doch etwas dagegen unternehmen müssen!«, sagte Sarah aufgebracht. »Sie hätte ihn mit Gewalt herausholen müssen!« »Wer weiß? Vielleicht hat sie es versucht - und ist gescheitert.« »Glauben Sie, dass auch sie unter dem Bann der alten Frau steht?« Gerard schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube vielmehr, dass die alte Dame keine Macht über sie hat und dass sie sie eben deshalb erbittert hasst. Achten Sie einmal auf ihre Augen.« Sarah runzelte die Stirn. »Ich werde einfach nicht schlau aus ihr - der jungen Mrs. Boynton, meine ich. Durchschaut sie, was da abläuft?« »Ich glaube, sie hat eine ziemlich klare Vorstellung davon.« »Hm«, sagte Sarah. »Eigentlich sollte man die Alte umbringen! Ich persönlich würde Arsen im Frühstückstee verordnen.« Dann sagte sie unvermittelt: »Was ist mit der jüngsten Tochter - dem rothaarigen Mädchen mit diesem faszinierenden abwesenden Lächeln?« Gerard runzelte die Stirn. »Da bin ich mir nicht sicher. Sie hat etwas Sonderbares. Aber Ginevra Boynton ist schließlich die leibliche Tochter der alten Dame.« »Stimmt. Bei ihr müsste der Fall anders liegen - oder nicht?« Gerard sagte nachdenklich: »Ich glaube nicht, dass die Gier nach Macht und der Drang, andere zu quälen - wenn sie von einem Menschen erst einmal Besitz ergriffen haben -, irgendjemanden verschonen, nicht einmal die, die einem lieb und teuer sind.« Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Sind Sie Christin, Mademoiselle?« Sarah sagte langsam: »Ich weiß nicht recht. Früher dachte ich immer, ich sei gar nichts. Aber jetzt. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe das Gefühl, ich meine, wenn ich all das hier wegwischen könnte« - sie machte eine heftige Handbewegung -, »die ganzen Kirchen und die Sekten und die sich befehdenden Religionen, dann - dann könnte ich vielleicht die friedvolle Gestalt Christi auf einem Esel in Jerusalem einziehen sehen - und an Ihn glauben.« Dr. Gerard sagte ernst: »Ich glaube vor allem an einen Grundsatz des Christentums - sich zu begnügen mit dem, was man hat. Ich bin Arzt und weiß, dass Ehrgeiz - der Wunsch, Erfolg zu haben, Macht zu besitzen - die Ursache der meisten psychischen Störungen ist. Wenn dieser Ehrgeiz befriedigt wird, sind Arroganz, Gewalttätigkeit und letztendlich Überdruss die Folge. Und wenn er unerfüllt bleibt, wenn das triebhafte Verlangen nicht befriedigt wird - dann müssen Sie nur in die Irrenanstalten gehen, um die Folgen zu sehen! Sie sind voll von Menschen, die es nicht ertragen konnten, mittelmäßig, unbedeutend, erfolglos zu sein, und Fluchtwege aus der Realität gesucht und gefunden haben, um für immer vom eigentlichen Leben abgeschnitten zu sein.« Sarah sagte unvermittelt: »Zu schade, dass die alte Mrs. Boynton nicht auch in einer Anstalt ist.« Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, ihr Platz ist nicht unter den Gescheiterten. Es ist viel schlimmer. Denn sie hat ihr Ziel erreicht! Sie hat ihren Traum verwirklicht!« Sarah erschauerte. Dann rief sie heftig aus: »So etwas dürfte es einfach nicht geben!« Siebtes Kapitel Sarah war gespannt, ob Carol Boynton die Verabredung am späten Abend einhalten würde. Alles in allem bezweifelte sie es eher. Sie befürchtete, dass Carol ihre halbvertraulichen Mitteilungen vom Vormittag bereuen und sich anders besinnen könnte. Dennoch richtete sie sich darauf ein, schlüpfte in einen blauen Satinmorgenmantel und holte ihren kleinen Spirituskocher heraus und setzte Teewasser auf. Gerade als sie dachte, dass Carol nicht mehr kommen würde (es war schon nach ein Uhr), und zu Bett gehen wollte, klopfte es. Sie machte die Tür auf und trat rasch zurück, um Carol hereinzulassen. Carol sagte atemlos: »Ich hatte Angst, Sie könnten schon zu Bett gegangen sein.« Sarah war darauf bedacht, sich sachlich zu geben. »O nein, ich habe auf Sie gewartet. Sie trinken doch eine Tasse Tee, nicht? Echter Lapsang Souchong.« Sie brachte ihr eine Tasse. Carols Verhalten war nervös und unsicher gewesen. Doch nachdem sie die Tasse und einen Keks angenommen hatte, wurde sie ruhiger. »Das ist richtig gemütlich«, sagte Sarah lächelnd. Carol schien etwas überrascht zu sein. »Ja«, sagte sie zweifelnd. »Ja, ich glaube schon.« »Es erinnert mich an die nächtlichen Gelage, die wir früher im Internat veranstaltet haben«, fuhr Sarah fort. »Sie waren wohl nie auf einer Schule?« Carol schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren immer zu Hause. Wir hatten Hauslehrerinnen - mehrere Hauslehrerinnen. Sie blieben nie lange.« »Waren Sie noch nie weg von daheim?« »Nein. Wir haben immer im gleichen Haus gelebt. Das ist das erste Mal, dass ich verreise.« Sarah sagte beiläufig: »Dann muss das ein großes Abenteuer für Sie sein.« »O ja! Es ist - es ist alles wie ein Traum.« »Was hat Ihre - Ihre Stiefmutter zu dieser Auslandsreise veranlasst?« Bei der Erwähnung von Mrs. Boynton war Carol zusammengezuckt. Sarah sagte rasch: »Wissen Sie, ich bin Ärztin. Ich habe gerade mein Examen gemacht. Ihre Mutter, vielmehr Ihre Stiefmutter, interessiert mich - als Fall, meine ich. Für mich ist sie nämlich eindeutig ein pathologischer Fall.« Carol starrte sie an. Offensichtlich war das ein völlig neuer Gedanke für sie. Sarah hatte nicht von ungefähr gesprochen. Ihr war klar, dass Mrs. Boynton für ihre Familie eine Art mächtiger, abstoßender Götze war, der alles überschattete. Sarah hatte die feste Absicht, ihr ein wenig von ihrer Angst einflößenden Wirkung zu nehmen. »Ja«, sagte sie. »Menschen können unter - unter krankhafter Herrschsucht leiden. Sie werden tyrannisch und bestehen darauf, dass alles genau so gemacht wird, wie sie sagen, und es ist immer äußerst schwierig, mit solchen Menschen zurechtzukommen. « Carol stellte ihre Tasse ab. »Ach«, rief sie, »ich bin ja so froh, dass ich mit Ihnen reden kann! Ich glaube nämlich, dass Ray und ich schon - na ja, richtig komisch geworden sind. Wir steigern uns schon in alles Mögliche hinein.« »Es tut immer gut, mit einem Unbeteiligten zu sprechen«, sagte Sarah. »Innerhalb der eigenen Familie ist man meist zu gefühlsbetont.« Dann fragte sie beiläufig: »Wenn Sie so unglücklich sind -haben Sie dann nie daran gedacht, von zu Hause wegzugehen?« Carol sah sie entsetzt an. »O nein! Wie könnten wir? Ich, ich meine, Mutter würde es nie erlauben.« »Aber sie könnte Sie nicht daran hindern«, sagte Sarah sanft. »Sie sind doch volljährig.« »Ich bin dreiundzwanzig.« »Eben.« »Trotzdem kann ich es nicht - ich meine, ich wüsste gar nicht, wo ich hingehen und was ich tun sollte.« Ihre Stimme klang bestürzt. »Wissen Sie«, sagte sie, »wir haben kein Geld.« »Haben Sie keine Freunde, zu denen Sie gehen könnten?« »Freunde?« Carol schüttelte den Kopf. »O nein, wir kennen niemanden!« »Hat keiner von Ihnen je daran gedacht, sich selbstständig zu machen?« »Nein. Ich glaube nicht. Das - das könnten wir nicht.« Sarah wechselte das Thema. Die Bestürzung des jungen Mädchens erregte ihr Mitleid. Sie sagte: »Mögen Sie Ihre Stiefmutter?« Carol schüttelte langsam den Kopf. Mit ängstlicher Stimme flüsterte sie: »Ich hasse sie. Und Ray hasst sie auch. Wir -wir haben uns oft gewünscht, dass sie tot wäre.« Sarah wechselte erneut das Thema. »Erzählen Sie mir etwas über Ihren älteren Bruder.« »Über Lennox? Ich weiß nicht, was mit Lennox los ist. Er spricht kaum noch. Er ist immer wie in Trance. Nadine macht sich schreckliche Sorgen um ihn.« »Sie haben Ihre Schwägerin gern, nicht?« »Ja. Nadine ist anders. Sie ist immer freundlich. Aber sie ist sehr unglücklich.« »Wegen Ihres Bruders?« »Ja.« »Sind die beiden schon lange verheiratet?« »Vier Jahre.« »Und sie haben immer bei Ihnen zu Hause gewohnt?« »Ja.« »Gefällt das Ihrer Schwägerin?«, fragte Sarah. »Nein.« Nach einer Weile sagte Carol: »Vor etwas über vier Jahren gab es einen furchtbaren Krach. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass keiner von uns daheim das Haus verlässt. Ich meine, wir gehen natürlich in den Garten und so, aber das ist alles. Nur Lennox hat sich manchmal nachts aus dem Haus geschlichen. Er ging nach Fountain Springs - zu einer Tanzveranstaltung. Mutter war furchtbar wütend, als sie dahinter kam. Es war schrecklich! Bald darauf hat sie dann Nadine eingeladen. Nadine ist eine entfernte Verwandte meines Vaters. Sie war sehr arm und ließ sich damals zur Krankenschwester ausbilden. Sie kam und blieb einen Monat bei uns. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es war, jemanden zu Besuch zu haben! Und sie und Lennox verliebten sich ineinander. Und Mutter meinte, dass es das Beste wäre, wenn sie schnell heiraten und weiter bei uns wohnen würden.« »Und Nadine war damit einverstanden?« Carol zögerte. »Ich glaube nicht, dass sie große Lust dazu hatte, aber sie hatte auch nicht direkt etwas dagegen. Später wollte sie dann weg - zusammen mit Lennox natürlich.« »Aber daraus wurde nichts?« »Nein. Mutter wollte nichts davon wissen.« Carol schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich glaube, dass - dass sie Nadine inzwischen nicht mehr mag. Nadine ist -eigenartig. Man weiß nie, was sie denkt. Sie versucht Jinny zu helfen, und das passt Mutter nicht.« »Jinny ist Ihre jüngere Schwester?« »Ja. Ihr richtiger Name ist Ginevra.« »Ist sie - auch unglücklich?« Carol schüttelte zweifelnd den Kopf. »Jinny ist seit einiger Zeit ziemlich sonderbar. Ich verstehe sie nicht. Wissen Sie, sie war schon immer sehr zart - und -und Mutter macht ein ziemliches Getue darum - was alles nur noch schlimmer macht. Aber in letzter Zeit ist Jinny wirklich sonderbar. Sie - manchmal jagt sie mir direkt Angst ein. Sie weiß bisweilen gar nicht, was sie tut.« »War sie schon bei einem Arzt?« »Nein. Nadine hat es ihr geraten, aber Mutter war strikt dagegen. Und da ist Jinny ganz hysterisch geworden und hat geschrien und gesagt, dass sie auf keinen Fall zum Arzt geht. Aber ich mache mir Sorgen um sie.« Dann stand Carol plötzlich auf. »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Sie wollen sicher zu Bett gehen. Es - es war sehr nett von Ihnen, dass ich herkommen und mit Ihnen reden durfte. Sie müssen uns für eine sehr merkwürdige Familie halten.« »Ach, jeder Mensch ist irgendwie merkwürdig«, sagte Sarah leichthin. »Kommen Sie doch wieder. Sie dürfen auch gern Ihren Bruder mitbringen.« »Wirklich?« »Aber ja! Und dann stecken wir die Köpfe zusammen und hecken etwas aus. Ich möchte auch, dass Sie einen Freund von mir kennen lernen, einen Dr. Gerard, einen sehr sympathischen Franzosen.« Carols Wangen färbten sich. »Ach, das hört sich herrlich an! Wenn nur Mutter nichts davon erfährt.« Sarah verbiss sich ihre ursprüngliche Antwort und sagte stattdessen: »Warum sollte sie? Sagen wir, morgen um die gleiche Zeit?« »O ja! Es könnte nämlich sein, dass wir übermorgen wegfahren.« »Dann bleibt es definitiv bei morgen Abend. Gute Nacht.« »Gute Nacht - und vielen Dank.« Carol ging hinaus und huschte leise durch den Korridor. Ihr Zimmer lag eine Etage höher. Als sie dort ankam und die Tür aufmachte, blieb sie vor Schreck auf der Schwelle stehen. In einem Sessel neben dem Kamin saß Mrs. Boynton, in einen grellroten wollenen Morgenrock gehüllt. Carols Lippen entfuhr ein spitzer Schrei. Zwei schwarze Augen sahen sie bohrend an. »Wo bist du gewesen, Carol?« »Ich - ich - « »Wo warst du?«, fragte die leise, raue Stimme mit dem eigentümlichen drohenden Unterton, der Carols Herz jedes Mal vor unerklärlicher Angst schneller schlagen ließ. »Bei Miss King - bei Sarah King.« »Bei der jungen Frau, die gestern Abend Raymond angesprochen hat?« »Ja, Mutter.« »Hast du vor, dich wieder mit ihr zu treffen?« Carols Lippen bewegten sich lautlos. Sie nickte bejahend. Furcht erfasste sie, eine mächtige, entsetzliche Woge der Furcht. »Wann?« »Morgen Abend.« »Du wirst nicht hingehen. Verstanden?« »Ja, Mutter.« »Versprochen?« »Ja. Ja.« Mrs. Boynton begann sich aus ihrem Sessel zu hieven. Carol trat automatisch näher und half ihr. Mrs. Boynton ging langsam, auf ihren Stock gestützt, zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach dem verstörten jungen Mädchen um. »Du wirst nichts mehr mit dieser Miss King zu tun haben. Hast du mich verstanden?« »Ja, Mutter.« »Dann wiederhole es.« »Ich werde nichts mehr mit ihr zu tun haben.« »Gut.« Mrs. Boynton verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Carol ging mit steifen Bewegungen hinüber zum Bett. Ihr war übel, ihr ganzer Körper kam ihr hölzern und fremd vor. Sie ließ sich auf das Bett fallen und wurde plötzlich von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ihr war gewesen, als hätte sich ein Blick vor ihr aufgetan - ein Panorama voller Sonnenschein und Bäumen und Blumen. Doch nun hatten sich die schwarzen Mauern um sie herum wieder geschlossen. Achtes Kapitel »Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Nadine Boynton drehte sich überrascht um und blickte in die dunklen, eifrigen Augen einer ihr völlig unbekannten jungen Frau. »Gewiss. Natürlich.« Aber noch während sie sprach, warf sie, fast unbewusst, einen kurzen nervösen Blick über die Schulter. »Mein Name ist Sarah King«, fuhr die andere fort. »Und Sie wünschen?« »Mrs. Boynton, ich möchte Ihnen etwas sagen, was Ihnen sicher sehr seltsam vorkommt. Ich habe mich neulich abends ziemlich lange mit Ihrer Schwägerin unterhalten. « Über Nadine Boyntons ruhiges Gesicht schien ein leiser Schatten zu huschen. »Sie haben mit Ginevra gesprochen?« »Nein, nicht mit Ginevra - mit Carol.« Der Schatten verschwand. »Ach so - mit Carol.« Nadine Boynton schien erfreut, aber auch etwas erstaunt zu sein. »Wie haben Sie denn das geschafft?« »Sie kam auf mein Zimmer«, sagte Sarah, »spät nachts.« Sie sah, wie sich die nachgezogenen Augenbrauen leicht nach oben bewegten. Verlegen fuhr sie fort: »Sie finden das bestimmt sehr merkwürdig.« »Nein«, sagte Nadine Boynton. »Es freut mich. Es freut mich sogar sehr. Es ist schön, dass Carol jemanden hat, mit dem sie reden kann.« »Wir - wir haben uns sehr gut verstanden.« Sarah bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen. »So gut, dass wir uns für den Abend darauf wieder verabredet haben.« »Und?« »Aber Carol kam nicht.« »Sie kam nicht?« Nadines Stimme klang kühl, nachdenklich. Ihr Gesicht, das so ruhig und sanft war, verriet Sarah nichts. »Nein. Gestern begegneten wir uns in der Hotelhalle. Ich sprach sie an, aber sie sagte kein Wort. Sah mich nur kurz an, wandte den Blick ab und eilte weiter.« »Ich verstehe.« Das Gespräch stockte. Es fiel Sarah schwer weiterzusprechen. Schließlich sagte Nadine Boynton: »Das - tut mir sehr Leid. Carol ist - ziemlich ängstlich und scheu.« Wieder Schweigen. Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wissen Sie, Mrs. Boynton, ich bin Ärztin. Und ich glaube -ich glaube, dass es für Ihre Schwägerin gut wäre, wenn sie - sich nicht zu sehr von anderen Menschen abkapseln würde.« Nadine Boynton sah Sarah nachdenklich an. »Ich verstehe. Sie sind also Ärztin. Das ist natürlich etwas anderes.« »Dann verstehen Sie, wovon ich spreche?«, sagte Sarah eindringlich. Nadine neigte den Kopf. Sie war noch immer gedankenvoll. »Sie haben natürlich vollkommen Recht«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist nicht so einfach. Meine Schwiegermutter ist bei schlechter Gesundheit und sie hat eine, ich möchte sagen, krankhafte Abneigung dagegen, Außenstehende in den Kreis ihrer Familie vordringen zu lassen.« »Aber Carol ist eine erwachsene Frau!«, sagte Sarah rebellisch. Nadine Boynton schüttelte den Kopf. »O nein«, sagte sie. »Körperlich vielleicht, aber nicht geistig. Das müssen Sie doch bemerkt haben, als Sie mit ihr sprachen. In einer kritischen Situation wird sie immer wie ein verängstigtes Kind reagieren.« »Glauben Sie, dass das der Grund war? Glauben Sie, dass sie - Angst bekam?« »Ich könnte mir vorstellen, dass meine Schwiegermutter darauf bestand, dass Carol nichts mehr mit Ihnen zu tun hat, Miss King.« »Und Carol gehorchte?« Nadine Boynton sagte ruhig: »Können Sie sich wirklich etwas anderes bei ihr vorstellen?« Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Sarah spürte, dass sie und Nadine sich hinter der Maske konventioneller Worte verstanden. Sie hatte das Gefühl, dass die andere die Situation richtig einschätzte, aber offensichtlich nicht bereit war, darüber zu sprechen. Sarah ließ den Mut sinken. Neulich abends hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Schlacht schon halb gewonnen sei. Sie hatte geglaubt, Carol bei weiteren heimlichen Treffen zur Auflehnung anstacheln zu können - sie und natürlich auch Raymond. (Um ganz ehrlich zu sein: Hatte sie dabei nicht die ganze Zeit in Wahrheit Raymond im Sinn gehabt?) Und nun war sie gleich im ersten Gefecht schmählich von dem unförmigen Koloss mit den bösen, schadenfrohen Augen besiegt worden. Carol hatte sich kampflos geschlagen gegeben. »Aber das ist doch völlig falsch!«, rief Sarah aus. Nadine sagte nichts. Ihr Schweigen traf Sarah wie eine eiskalte Hand, die sich auf ihr Herz legte. Sie dachte: Diese Frau weiß viel besser als ich, wie hoffnungslos alles ist. Sie muss damit leben! Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die alte Mrs. Boynton trat heraus. Sie ging auf ihren Stock gelehnt, während Raymond sie auf der anderen Seite stützte. Sarah zuckte leicht zusammen. Sie sah, wie die Augen der alten Frau von ihr zu Nadine und wieder zurück wanderten. Sie war darauf gefasst gewesen, Abneigung in diesen Augen zu lesen, ja sogar Hass. Aber sie war nicht auf das gefasst, was sie tatsächlich in ihnen sah - triumphierendes und boshaftes Vergnügen. Sarah wandte sich ab. Nadine ging zu den beiden hinüber. »Da bist du ja, Nadine«, sagte Mrs. Boynton. »Ich werde mich einen Moment setzen und ausruhen, bevor ich ausgehe.« Die beiden halfen ihr auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Nadine setzte sich neben sie. »Mit wem hast du dich eben unterhalten, Nadine?« »Mit einer Miss King.« »Ach, ja. Das junge Ding, das neulich abends mit Raymond sprach. Nun, Ray, warum gehst du nicht hin und redest mit ihr? Sie steht drüben am Schreibtisch.« Der Mund der alten Frau verzog sich zu einem breiten boshaften Lächeln, während sie Raymond betrachtete. Der junge Mann wurde rot. Er wandte das Gesicht ab und murmelte etwas. »Was sagtest du gerade, mein Sohn?« »Dass ich nicht mit ihr reden will.« »Nun, das dachte ich mir. Du wirst nicht mit ihr reden. Du könntest es gar nicht, selbst wenn du es noch so sehr wolltest!« Sie hustete plötzlich. Es klang pfeifend und keuchend. »Ich genieße diese Reise sehr, Nadine«, sagte sie. »Ich hätte sie mir um nichts auf der Welt entgehen lassen.« »Tatsächlich?« Nadines Stimme war ausdruckslos. »Ray.« »Ja, Mutter?« »Hol mir einen Bogen Briefpapier - von dem Tisch dort drüben in der Ecke.« Raymond gehorchte. Nadine hob den Kopf. Sie beobachtete jedoch nicht den jungen Mann, sondern die alte Frau. Mrs. Boynton hatte sich vorgebeugt, und ihre Nasenflügel bebten vor freudiger Erregung. Ray ging dicht an Sarah vorbei. Sie blickte auf, und auf ihrem Gesicht erschien ein erwartungsvoller Ausdruck. Er verschwand sofort, als Raymond an ihr vorbeihuschte, etwas Briefpapier aus der Mappe nahm und wieder zurückging. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, als er bei seiner Mutter ankam, und sein Gesicht war leichenblass. Mrs. Boynton, die ihn scharf beobachtete, sagte ganz leise: »Aha.« Dann sah sie, dass Nadines Blick auf ihr ruhte. Der Ausdruck, der darin lag, ließ sie vor jähem Zorn blinzeln. »Wo ist denn unser Mr. Cope heute Morgen?«, fragte sie. Nadine schlug die Augen nieder. Mit ihrer sanften, ausdruckslosen Stimme erwiderte sie: »Das weiß ich nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen.« »Ich mag ihn«, sagte Mrs. Boynton. »Ich mag ihn sogar sehr. Wir sollten ihn viel öfter bei uns haben. Das würde dir doch gefallen, stimmt’s?« »Ja«, sagte Nadine. »Ich habe ihn auch sehr gern.« »Was ist eigentlich in letzter Zeit mit Lennox los? Er kommt mir sehr still und teilnahmslos vor. Zwischen euch ist doch alles in Ordnung, oder?« »Aber ja. Was sollte schon sein?« »Keine Ahnung. Auch zwischen Eheleuten gibt es gelegentlich Spannungen. Vielleicht wärt ihr glücklicher, wenn ihr euer eigenes Heim hättet?« Nadine gab keine Antwort. »Nun, was meinst du dazu? Gefällt dir die Idee?« Nadine schüttelte den Kopf. Lächelnd sagte sie: »Ich glaube nicht, dass sie dir gefallen würde, Mutter.« Mrs. Boyntons Augenlider zuckten. Dann sagte sie scharf und giftig: »Du warst schon immer gegen mich, Nadine.« Die junge Frau erwiderte ruhig: »Es tut mir Leid, wenn du das so siehst.« Die alte Frau nahm ihren Stock fester in die Hand. Ihr rotes Gesicht schien noch eine Spur dunkler zu werden. In verändertem Ton sagte sie: »Ich habe meine Tropfen vergessen. Geh und hol sie mir, Nadine.« »Natürlich.« Nadine stand auf und ging durch die Halle zum Fahrstuhl. Mrs. Boynton blickte ihr nach. Raymond saß schlaff in seinem Sessel und starrte mit glasigen Augen unglücklich vor sich hin. Nadine fuhr nach oben. Sie ging durch den Korridor und betrat das Wohnzimmer ihrer Suite. Lennox saß am Fenster. Er hatte ein Buch in der Hand, doch er las nicht. Als Nadine hereinkam, richtete er sich auf. »Hallo, Nadine.« »Ich will nur Mutters Tropfen holen. Sie hat sie vergessen.« Sie ging in Mrs. Boyntons Schlafzimmer. Aus einem Fläschchen auf dem Waschtisch maß sie sorgfältig die exakte Menge in ein kleines Medizinglas ab, das sie dann mit Wasser auffüllte. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hielt sie inne. »Lennox.« Es dauerte ein Weilchen, ehe er antwortete. Es war, als müsste das Wort einen langen Weg zurücklegen. Dann sagte er:    »Entschuldige. Was gibt’s?« Nadine Boynton stellte das Glas behutsam auf dem Tisch ab. Dann ging sie hinüber zu Lennox. »Lennox, draußen scheint die Sonne -dort draußen, vor dem Fenster! Dort wartet das Leben! Es ist so schön. Wir könnten mittendrin sein - statt es von hier drinnen durch das Fenster zu betrachten.« Wieder gab er geraume Zeit keine Antwort. Dann sagte er: »Entschuldige. Möchtest du ausgehen?« »Ja«, erwiderte sie rasch, »ich möchte hinausgehen - mit dir! Hinaus in den Sonnenschein, hinaus ins Leben! Und mit dir zusammen leben!« Er kauerte sich tiefer in den Sessel. In seinen Augen lag ein ruheloser, gehetzter Blick. »Nadine, mein Schatz - müssen wir schon wieder davon anfangen?« »Ja, das müssen wir. Lass uns fortgehen und irgendwo unser eigenes Leben führen.« »Wie denn? Wir haben doch kein Geld.« »Dann gehen wir eben arbeiten.« »Wie denn? Was können wir denn? Ich habe nichts gelernt. Und es gibt Tausende von Arbeitslosen - qualifizierte Leute, gut ausgebildete Leute. Nein, wir würden es nie schaffen.« »Dann verdiene ich eben für uns beide.« »Mein liebes Kind, du hast ja nicht einmal deine Ausbildung abgeschlossen. Es ist hoffnungslos - und unmöglich.« »Nein, hoffnungslos und unmöglich ist nur unser derzeitiges Leben.« »Du weißt nicht, was du da redest. Mutter ist sehr gut zu uns. Sie gibt uns alles, was wir uns nur wünschen können.« »Außer Freiheit. Lennox, gib dir einen Ruck! Lass uns weggehen - noch heute!« »Du bist ja verrückt, Nadine.« »Nein, ganz und gar nicht. Ich bin absolut bei klarem Verstand. Ich möchte mein eigenes Leben führen, mit dir, draußen im Sonnenschein - nicht erdrückt vom Schatten einer alten Frau, die ein Tyrann ist und der es Vergnügen bereitet, andere unglücklich zu machen.« »Mutter mag ja etwas autoritär sein, aber - « »Deine Mutter ist wahnsinnig! Sie ist geisteskrank! « »Das ist nicht wahr«, sagte er ruhig. »Sie ist eine bemerkenswert tüchtige Geschäftsfrau. « »Das ja - vielleicht.« »Und dir muss auch klar sein, dass sie nicht ewig leben kann. Sie wird alt, und sie ist in schlechter körperlicher Verfassung. Nach ihrem Tod wird das Vermögen meines Vaters zu gleichen Teilen unter uns Kindern aufgeteilt. Sie hat uns das Testament selbst vorgelesen, wie du weißt.« »Wenn sie stirbt«, sagte Nadine, »ist es vielleicht zu spät.« »Zu spät wofür?« »Zu spät, um glücklich zu werden.« Lennox wiederholte leise: »Zu spät, um glücklich zu werden.« Plötzlich erschauerte er. Nadine trat näher zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. »Lennox, ich liebe dich. Hier geht es um einen Kampf zwischen deiner Mutter und mir. Auf wessen Seite stehst du - auf ihrer oder meiner?« »Auf deiner! Auf deiner natürlich!« »Dann tu, um was ich dich bitte.« »Das kann ich nicht!« »Doch, du kannst es. Überleg doch mal, Lennox, wir könnten Kinder haben.« »Mutter möchte ja, dass wir Kinder haben. Sie hat es selbst gesagt.« »Ich weiß, aber ich werde keine Kinder in die Welt setzen, die so aufwachsen müssen, wie ihr aufgewachsen seid. Euch kann eure Mutter beeinflussen, aber über mich hat sie keine Macht.« Lennox sagte leise: »Du machst sie manchmal wütend. Das ist sehr unklug, Nadine.« »Sie ist bloß wütend, weil sie weiß, dass sie keinen Einfluss auf mich hat und mir nicht vorschreiben kann, was ich zu denken habe!« »Ich weiß ja, dass du immer höflich und freundlich zu ihr bist. Du bist wunderbar. Du bist zu gut für mich. Bist es immer gewesen. Als du sagtest, dass du mich heiraten würdest, konnte ich mein Glück kaum fassen.« Nadine sagte leise: »Es war falsch von mir, dich zu heiraten.« »Ja, es war falsch.« Lennox’ Stimme klang hoffnungslos. »Du verstehst nicht, was ich meine. Ich will damit sagen, wenn ich damals fortgegangen wäre und dich gebeten hätte, mit mir zu kommen, dann hättest du es getan. Ja, ich glaube, du wärst mitgekommen. Aber ich war damals noch zu jung, um deine Mutter zu durchschauen und zu begreifen, worauf sie aus war.« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Du weigerst dich also, mit mir wegzugehen? Nun, ich kann dich nicht dazu zwingen. Aber mir steht es frei zu gehen! Und ich glaube - ich glaube, ich werde tatsächlich fortgehen.« Lennox starrte sie ungläubig an. Zum ersten Mal antwortete er, ohne zu zögern, als hätte der träge Strom seiner Gedanken endlich schneller zu fließen begonnen. »Aber - aber - das kannst du nicht«, stammelte er. »Mutter - Mutter würde es nie zulassen.« »Sie kann mich nicht daran hindern.« »Aber du hast kein Geld.« »Ich kann arbeiten, borgen, betteln oder stehlen. Versteh doch endlich, Lennox: Deine Mutter hat keine Macht über mich! Ich kann gehen oder bleiben, ganz wie es mir beliebt. Und allmählich glaube ich, dass ich dieses Leben lange genug ertragen habe.« »Nadine - verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht!« Sie sah ihn nachdenklich an, ruhig, mit unergründlicher Miene. »Verlass mich nicht, Nadine.« Er sprach wie ein Kind. Sie wandte das Gesicht ab, damit er nicht die jähe Qual in ihren Augen sah. Sie kniete neben ihm nieder. »Dann komm mit. Geh mit mir fort! Du kannst es. Du musst es nur wollen!« Er wich vor ihr zurück. »Ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. Begreif das doch. Gott steh mir bei -ich habe nicht den Mut dazu...« Neuntes Kapitel Dr. Gerard betrat die Räume des Reisebüros Castle und sah dort Sarah King am Tresen stehen. Sie blickte auf. »Oh, guten Morgen! Ich mache gerade den Ausflug nach Petra perfekt. Wie ich höre, fahren Sie nun doch mit.« »Ja, ich konnte es so einrichten.« »Wie schön.« »Werden wir eine große Gruppe sein?« »Wie man mir sagte, sind außer Ihnen und mir nur noch zwei Damen dabei. Also gerade ein Wagen voll.« »Das wird bestimmt sehr nett«, sagte Gerard mit einer kleinen Verbeugung und widmete sich dann seinen Angelegenheiten. Als Sarah das Reisebüro verließ, schloss er sich, mit seiner Post in der Hand, ihr wieder an. Es war ein klarer, sonniger Tag, und die Luft war ausgesprochen frisch. »Was gibt es Neues von unseren Freunden, den Boyntons?«, erkundigte sich Dr. Gerard. »Ich war in Nazareth und Bethlehem und einigen anderen Orten -ein dreitägiger Ausflug.« Langsam und fast widerstrebend berichtete Sarah von ihren fruchtlosen Bemühungen, Kontakt herzustellen. »Jedenfalls hatte ich keinen Erfolg«, sagte sie abschließend. »Und heute reisen sie ab.« »Wohin fahren sie?« »Ich habe keine Ahnung.« Ärgerlich fuhr sie fort: »Ich habe das dumme Gefühl, dass ich mich ziemlich zum Narren gemacht habe.« »In welcher Hinsicht?« »Mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. « Gerard zuckte die Schultern. »Das ist Ansichtssache.« »Sie meinen, ob man sich einmischen soll oder nicht?« »Ja.« »Tun Sie es?« Der Franzose schien amüsiert zu sein. »Sie meinen, ob ich die Angewohnheit habe, mich mit den Problemen anderer Leute zu befassen? Um ganz ehrlich zu sein: Nein.« »Dann halten Sie es also für falsch, dass ich versucht habe, mich einzumischen?« »Nein, o nein, Sie missverstehen mich.« Gerard sprach schnell und mit Nachdruck weiter. »Für mich ist es eine rein akademische Frage, ob man - wenn man sieht, dass Unrecht geschieht - versuchen sollte, etwas dagegen zu unternehmen. Das eigene Eingreifen kann von Nutzen sein -aber es kann auch unermesslichen Schaden anrichten! Es lassen sich hierzu keine festen Regeln aufstellen. Manche Leute haben eine Begabung dafür, sich einzumischen - sie machen ihre Sache gut! Andere gehen dabei plump vor und sollten besser die Finger davon lassen! Aber es ist auch eine Frage des Alters. Junge Menschen besitzen den Mut ihrer Ideale und Überzeugungen - ihre Wertvorstellungen sind eher theoretischer als praktischer Art. Sie wissen noch nicht aus eigener Erfahrung, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind! Wenn man an sich selbst und an die Rechtmäßigkeit seines Tuns glaubt, kann man oft Dinge erreichen, die den Einsatz wirklich lohnen. Nebenbei bemerkt, richtet man dabei aber auch oft sehr viel Schaden an. Ein älterer Mensch dagegen besitzt Erfahrung. Er hat festgestellt, dass es in den meisten Fällen mehr schadet als nützt, wenn man versucht, sich einzumischen - und darum unterlässt er es klugerweise! Das Resultat ist praktisch das gleiche: Der engagierte junge Mensch richtet nicht nur Schaden an, sondern tut auch Gutes, und der vorsichtig gewordene ältere Mensch tut keins von beiden.« »Was Sie da sagen, ist nicht gerade hilfreich«, wandte Sarah ein. »Kann ein Mensch einem anderen denn überhaupt helfen? Aber es ist Ihr Problem, nicht meines.« »Heißt das, dass Sie im Fall der Boyntons nichts unternehmen werden?« »Genau. Ich hätte keinerlei Aussichten auf Erfolg.« »Dann habe ich wohl auch keine.« »Bei Ihnen könnte es sich anders verhalten.« »Wieso?« »Weil Sie über besondere Voraussetzungen verfügen. Die Zugkraft Ihrer Jugend und Ihres Geschlechts.« »Meines Geschlechts? Ach so.« »Darauf läuft es letzten Endes immer hinaus, habe ich Recht? Bei dem jungen Mädchen hatten Sie kein Glück. Das bedeutet nicht, dass es Ihnen bei dem Bruder ebenso ergehen muss. Was Sie mir vorhin erzählt haben - von dem, was Carol Boynton Ihnen sagte -, zeigt deutlich, von welcher Seite Mrs. Boyntons Herrschsucht Gefahr droht. Der älteste Sohn, Lennox, widersetzte sich ihr im Überschwang des frühen Mannesalters. Er schlich sich aus dem Haus, ging tanzen. Das Verlangen nach einer Gefährtin war stärker als der hypnotische Bann. Aber die alte Frau wusste um die Macht des Geschlechtstriebs. Bei ihrem Beruf wird sie oft genug damit konfrontiert gewesen sein. Und so fand sie eine raffinierte Lösung: holte ein hübsches, aber mittelloses junges Mädchen ins Haus, begünstigte eine Heirat - und erwarb dadurch einen weiteren Sklaven.« Sarah schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die junge Mrs. Boynton ihre Sklavin ist.« Gerard stimmte ihr zu. »Nein, vermutlich nicht. Ich glaube, dass die alte Mrs. Boynton Nadines Willenskraft und Charakterstärke unterschätzte, weil sie ruhig und fügsam war. Nadine Boynton war damals noch zu jung und unerfahren, um die Situation richtig einzuschätzen. Inzwischen kennt sie sie genau, aber jetzt ist es zu spät.« »Glauben Sie, dass sie die Hoffnung aufgegeben hat?« Dr. Gerard schüttelte zweifelnd den Kopf. »Falls sie Pläne hat, dann weiß bestimmt niemand davon. Es gibt da gewisse Möglichkeiten, was Mr. Cope betrifft. Der Mensch ist von Natur aus eifersüchtig -und Eifersucht ist ein starker Antrieb. Lennox Boynton könnte noch aus der Lethargie zu reißen sein, in der er zu versinken droht.« »Und Sie meinen« - Sarah bemühte sich bewusst um einen sachlichen und geschäftsmäßigen Ton -, »dass eine Chance besteht, dass ich bei Raymond etwas ausrichten könnte?« »Ja.« Sarah seufzte. »Ich hätte es ja versuchen können. Aber jetzt ist es sowieso zu spät. Im Übrigen ist mir ohnehin nicht ganz wohl dabei.« Gerard schien amüsiert zu sein. »Weil Sie Engländerin sind! Die Engländer haben Komplexe, was das Sexuelle betrifft. Sie halten es für >nicht salonfähig <.« Sarahs indignierte Reaktion beeindruckte ihn nicht. »Aber es ist so! Ich weiß, dass Sie sehr modern sind, dass Sie in aller Öffentlichkeit die ungehörigsten Wörter benutzen, die Sie im Lexikon finden können, dass Sie nüchtern und absolut ungeniert sind! Tout de même behaupte ich, dass Sie sich nicht von Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter unterscheiden. Sie sind noch immer die züchtig errötende englische Miss, auch wenn sie nicht mehr erröten!« »Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört!« Mit einem verschmitzten Zwinkern und völlig ungerührt fügte Dr. Gerard hinzu: »Und Sie sehen dabei entzückend aus.« Diesmal war Sarah sprachlos. Dr. Gerard zog eilends den Hut. »Ich will mich lieber verabschieden«, sagte er, »bevor Sie Zeit haben, alles auszusprechen, was Ihnen jetzt im Kopf herumgeht.« Er verzog sich rasch ins Hotel. Sarah folgte ihm langsam. Vor dem Hotel herrschte ziemlich viel Betrieb. Mehrere mit Gepäck beladene Autos waren im Begriff abzufahren. Lennox und Nadine Boynton standen mit Mr. Cope neben einer schweren Limousine und überwachten die Vorbereitungen zur Abreise. Ein dicker Dragoman redete in einem kaum verständlichen Kauderwelsch auf Carol ein. Sarah ging wortlos an ihnen vorbei und betrat das Hotel. Mrs. Boynton saß, in einen dicken Mantel gehüllt, aufbruchbereit in einem Sessel. Als Sarah sie betrachtete, merkte sie, wie ihre Gefühle gegenüber der alten Frau plötzlich umschlugen. Sie hatte Mrs. Boynton für eine finstere Macht gehalten, für die Verkörperung heimtückischer Böswilligkeit. Auf einmal sah sie in der alten Frau nur noch eine bemitleidenswerte, armselige Figur. Mit einer solchen Machtgier geboren zu sein, einem solchen Verlangen, andere zu beherrschen - und dann nichts weiter als ein kleiner Haustyrann zu werden! Wenn doch ihre Kinder sie so sehen könnten, wie Sarah sie in diesem Moment sah - ein Gegenstand des Mitleids, eine dumme, bösartige, armselige, sich aufspielende alte Frau. Sarah ging spontan zu ihr hinüber. »Auf Wiedersehen, Mrs. Boynton«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.« Die alte Dame blickte auf. In ihren Augen kämpften Feindseligkeit und Empörung miteinander. »Sie hatten es darauf angelegt, unhöflich zu mir zu sein«, sagte Sarah. (Sie fragte sich, ob sie verrückt geworden war, was in aller Welt sie dazu brachte, so zu reden.) »Sie haben versucht, Ihren Sohn und Ihre Tochter daran zu hindern, sich mit mir anzufreunden. Finden Sie nicht, dass das ausgesprochen albern und kindisch ist? Sie stellen sich gern als eine Art Ungeheuer dar, aber wissen Sie, im Grunde sind Sie lediglich bemitleidenswert und ziemlich lächerlich. Wenn ich Sie wäre, würde ich mit dem albernen Theater aufhören. Ich nehme an, dass ich mich mit meiner Offenheit bei Ihnen sehr unbeliebt mache, aber ich meine es ernst - und hoffe, dass etwas davon hängen bleibt. Sie könnten noch viel Freude am Leben haben. Es ist nämlich wirklich viel besser, freundlich und nett zu sein. Sie müssen es nur einmal versuchen.« Sie hielt inne. Mrs. Boynton war wie zur Salzsäule erstarrt. Schließlich fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, ihr Mund öffnete sich - aber ihr fehlten noch immer die Worte. »Nur zu!«, sagte Sarah aufmunternd. »Sprechen Sie es aus! Es ist mir egal, was Sie sagen. Aber denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe.« Endlich fand Mrs. Boynton die Sprache wieder - und ihre leise, raue, aber durchdringende    Stimme.    Ihr Basiliskenblick ruhte nicht auf Sarah, sondern seltsamerweise auf einem Punkt hinter ihr. Sie schien ihre Worte nicht an Sarah zu richten, sondern an einen vertrauten Geist. »Ich vergesse nichts«, sagte sie. »Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas - keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht...« Die Worte selbst hatten nicht viel zu besagen, aber die Gehässigkeit, mit der sie ausgesprochen wurden, ließ Sarah einen Schritt zurückweichen. Und dann lachte Mrs. Boynton - lachte auf eine ganz widerwärtige Weise. Sarah zuckte die Schultern und sagte: »Sie tun mir Leid.« Sie wandte sich ab und ging zum Fahrstuhl, wo sie beinahe mit Raymond Boynton zusammengestoßen wäre. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte sie schnell: »Auf Wiedersehen. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise. Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder.« Sie schenkte ihm ein warmes, freundliches Lächeln und ging rasch weiter. Raymond stand wie versteinert da. Er war so in Gedanken versunken, dass der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart, der den Lift verlassen wollte, mehrmals »Pardon!« sagen musste. Endlich hörte ihn Raymond und trat zur Seite. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.« Carol kam auf ihn zu. »Ray, würdest du bitte Jinny holen? Sie ist noch mal auf ihr Zimmer gegangen. Wir können j etzt fahren. « »Klar. Ich sage ihr, dass sie gleich herunterkommen soll.« Raymond nahm den Lift. Hercule Poirot stand da und sah ihm mit leicht gerunzelter Stirn nach, den Kopf wie lauschend schief gelegt. Dann nickte er zustimmend vor sich hin. Auf dem Weg durch die Halle warf er einen langen Blick auf Carol, die sich zu ihrer Mutter gesetzt hatte. Dann winkte er dem Oberkellner, der gerade vorbeiging. »Pardon. Könnten Sie mir sagen, wie die Herrschaften von drüben heißen?« »Ihr Name ist Boynton, Monsieur. Sie sind Amerikaner.« »Vielen Dank«, sagte Hercule Poirot. In der dritten Etage kamen Dr. Gerard, der sich auf dem Weg zu seinem Zimmer befand, Raymond Boynton und Ginevra entgegen, die zum Fahrstuhl gingen. Gerade als sie im Begriff waren einzusteigen, sagte Ginevra: »Warte bitte einen Moment im Lift auf mich, Ray.« Sie lief zurück, bog um eine Ecke und holte Dr. Gerard ein. »Bitte - ich muss Sie sprechen.« Gerard sah sie erstaunt an. Das Mädchen trat dicht an ihn heran und packte seinen Arm. »Sie wollen mich wegbringen! Vielleicht sogar töten. Ich gehöre gar nicht zu ihnen, müssen Sie wissen. Mein richtiger Name ist gar nicht Boynton.« Sie sprach hastig weiter, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich bin - ich bin nämlich königlichen Geblüts! Wirklich! Und darum - darum bin ich überall von Feinden umringt. Sie wollen mich vergiften - mir alles Mögliche antun. Wenn Sie mir helfen könnten zu fliehen, dann - « Sie brach ab, da Schritte zu hören waren. »Jinny?« Sie machte eine erschrockene Bewegung, die sie sehr schön aussehen ließ, legte den Finger an die Lippen, warf Gerard einen flehenden Blick zu und lief zum Fahrstuhl. »Ich komme, Ray.« Dr. Gerard ging mit verdutzter Miene weiter. Dann schüttelte er langsam den Kopf und runzelte die Stirn. Zehntes Kapitel Es war der Morgen des Aufbruchs nach Petra. Als Sarah herunterkam, sah sie eine große, herrische Frau mit Pferdegesicht vor dem Eingang stehen, die ihr schon früher im Hotel aufgefallen war und die lautstark gegen die Größe des Wagens protestierte. »Ausgeschlossen! Auf gar keinen Fall! Der soll für vier Personen sein? Und einen Dragoman? Da brauchen wir selbstverständlich eine wesentlich größere Limousine. Sie bringen diesen Wagen auf der Stelle zurück und beschaffen einen adäquateren ! « Vergebens erhob der Vertreter der Firma Castle die Stimme, um alles zu erklären. Dass dies genau der Wagentyp sei, der immer zur Verfügung gestellt werde. Dass das wirklich ein sehr komfortabler Wagen sei. Dass ein größerer Wagen für Wüstenfahrten ungeeignet sei. Doch die stattliche Frau ging, metaphorisch gesprochen, über ihn hinweg wie eine Dampfwalze. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Sarah zu. »Miss King? Ich bin Lady Westholme. Sie stimmen mir doch zu, dass dieser Wagen absolut unzumutbar ist?« »Tja«, sagte Sarah vorsichtig, »ich muss zugeben, dass ein größerer tatsächlich komfortabler wäre.« Der junge Mann von der Firma Castle murmelte, dass ein größerer Wagen nur gegen Aufpreis zu haben sei. »In Ihrem Preis«, sagte Lady Westholme bestimmt, »ist alles eingeschlossen, und ich weigere mich ganz entschieden, einen Aufschlag zu bezahlen. In Ihrem Prospekt steht klipp und klar:    >in bequemer Limousine<. Und Sie werden die Bedingungen des Vertrags erfüllen.« Der junge Mann von der Firma Castle gab sich geschlagen, murmelte etwas davon, dass er sehen werde, was sich machen lasse, und verzog sich. Lady Westholme sah Sarah an, ein triumphierendes Lächeln im wettergegerbten Gesicht, die breiten roten Pferdenüstern frohlockend gebläht. Lady Westholme war eine prominente Persönlichkeit im politischen Leben Englands. Als Lord Westholme, ein Angehöriger des britischen Hochadels, ein Mann von mittlerem Alter und schlichter Gemütsart, dessen einzige Interessen im Leben Jagen, Schießen und Fischen waren, eines Tages von einer Reise in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, befand sich unter den Passagieren an Bord auch eine Mrs. Vansittart. Kurz darauf wurde aus Mrs. Vansittart Lady Westholme. Die Verbindung wurde oft als anschaulicher Beweis für die Gefahren einer Schiffsreise angeführt. Die neue Lady Westholme trug nur noch Tweed und derbe Schuhe, züchtete Hunde, drangsalierte die Dorfbewohner und drängte ihren Gatten erbarmungslos, ein öffentliches Amt anzustreben. Als jedoch selbst sie einsehen musste, dass die Politik nicht Lord Westholmes Sache war und es auch nie sein würde, gestattete sie ihm gnädig, sich wieder seinen sportlichen Aktivitäten zuzuwenden, und kandidierte selbst für das Parlament. Nachdem sie mit deutlicher Mehrheit gewählt worden war, stürzte sich Lady Westholme mit Feuereifer in die Politik, wo sie sich insbesondere in den parlamentarischen Fragestunden hervortat. Schon bald erschienen die ersten Karikaturen von ihr (immer ein untrügliches Zeichen für Erfolg). Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens trat sie ein für die altmodischen Werte der Familie, für die Verbesserung der Stellung der Frau und war eine glühende Verfechterin des Völkerbundes. Sie hatte entschiedene Ansichten in puncto Landwirtschaft, Wohnungsbau und was die Sanierung von Elendsvierteln betraf. Sie flößte allgemein Respekt ein und machte sich fast überall unbeliebt! Jedermann ging davon aus, dass sie Unterstaatssekretärin werden würde, wenn ihre Partei wieder ans Ruder kam. Im Augenblick waren allerdings (aufgrund eines Zerwürfnisses der Koalitionsregierung aus Labour und Konservativen) wider Erwarten die Liberalen an der Macht. Lady Westholme blickte mit grimmiger Befriedigung dem abfahrenden Wagen nach. »Männer glauben immer, sie könnten sich bei Frauen alles erlauben«, sagte sie. Sarah dachte, dass ein Mann, der glaubte, sich bei Lady Westholme Freiheiten herausnehmen zu können, eine gehörige Portion Mut besitzen musste! Sie stellte Dr. Gerard vor, der gerade aus dem Hotel gekommen war. »Ihr Name ist mir natürlich bekannt«, sagte Lady Westholme und schüttelte ihm die Hand. »Ich sprach neulich in Paris mit Professor Chantereau. Ich befasse mich in letzter Zeit nämlich eingehend mit dem Problem der Behandlung mittelloser Geisteskranker. Sehr eingehend sogar. Wollen wir nicht hineingehen und drinnen warten, bis ein besserer Wagen gebracht wird?« Eine unscheinbare kleine Frau mittleren Alters mit grauen Haarsträhnen, die sich in der Nähe aufgehalten hatte, erwies sich als Miss Amabel Pierce, das vierte Mitglied der Reisegesellschaft. Auch sie wurde unter Lady Westholmes fürsorglichen Fittichen in die Halle expediert. »Sind Sie berufstätig, Miss King?« »Ja. Ich bin Ärztin.« »Gut«, sagte Lady Westholme beifällig und etwas gönnerhaft. »Wenn sich auf der Welt etwas ändern soll, dann nur durch den tätigen Einsatz von Frauen, das können Sie mir glauben!« Sarah, der ihr eigenes Geschlecht zum ersten Mal ein gewisses Unbehagen verursachte, folgte Lady Westholme gehorsam zu einer Sitzgruppe. Während sie dort saßen und warteten, unterrichtete Lady Westholme alle davon, dass sie die Einladung, während ihres Aufenthaltes in Jerusalem beim Hochkommissar zu logieren, abgelehnt hatte. »Ich wollte mich nicht durch offizielle Verpflichtungen einengen lassen. Ich wollte mir selbst ein Bild machen.« »Wovon?«, erkundigte sich Sarah. Woraufhin Lady Westholme ihr auseinander setzte, dass sie im Solomon abgestiegen war, um tun und lassen zu können, was sie wollte. Ergänzend fügte sie hinzu, dass sie dem Hoteldirektor bereits mehrere Vorschläge bezüglich einer kompetenteren Führung des Hauses unterbreitet habe. »Immer effizient sein«, sagte Lady Westholme, »das ist meine Devise!« Sie schien es in der Tat zu sein. Schon eine Viertelstunde später fuhr ein großer und äußerst bequemer Wagen vor, und zu gegebener Zeit - nachdem Lady Westholme exakte Anweisungen gegeben hatte, wie das Gepäck zu verstauen war -brach die Gesellschaft auf. Am Toten Meer wurde das erste Mal Halt gemacht. Zu Mittag aßen sie in Jericho. Danach war Lady Westholme, mit dem Baedeker bewaffnet, zusammen mit Miss Pierce, dem Doktor und dem beleibten Dragoman zu einem Rundgang durch das alte Jericho aufgebrochen, während Sarah im Garten des Hotels geblieben war. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und wollte allein sein. Tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich ihrer bemächtigt -eine Niedergeschlagenheit, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war auf einmal lustlos und desinteressiert, wollte nichts besichtigen, fühlte sich von ihren Mitreisenden angeödet. In diesem Augenblick wünschte sie nur, sie hätte sich nie auf diesen Abstecher nach Petra eingelassen. Der Ausflug würde sehr kostspielig werden, und sie war überzeugt, dass sie ihn nicht genießen würde! Lady Westholmes dröhnende Stimme, das ununterbrochene Geschnatter von Miss Pierce und das antizionistische Lamento des Dragomans strapazierten ihre Nerven schon jetzt über Gebühr. Fast ebenso sehr missfiel ihr Dr. Gerards amüsierte Miene, als wüsste er ganz genau, was in ihr vorging. Sie fragte sich, wo die Boyntons jetzt wohl waren. Vielleicht waren sie nach Syrien weitergefahren, waren in Baalbek oder in Damaskus. Und Raymond — was er wohl gerade machte? Seltsam, wie deutlich sie sein Gesicht vor sich sah — den Eifer, die Schüchternheit, die nervöse Spannung, die darin lagen. Ach, zum Teufel! Wozu noch an Leute denken, die ihr wahrscheinlich nie mehr über den Weg laufen würden? Die Szene mit der alten Frau - was war bloß in sie gefahren, auf die alte Dame loszumarschieren und eine Menge Unsinn vom Stapel zu lassen! Bestimmt hatten auch andere Leute etwas davon mitbekommen. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Lady Westholme sich in der Nähe aufgehalten hatte. Sarah versuchte sich darauf zu besinnen, was genau sie zu Mrs. Boynton gesagt hatte. Irgendetwas, das völlig abstrus und hysterisch geklungen haben musste. Gütiger Himmel, sich derart zum Narren zu machen! Aber eigentlich war es ja nicht ihre Schuld, sondern die von Mrs. Boynton. Die Frau hatte etwas an sich, das einen zum Äußersten trieb. Dr. Gerard kam in den Garten, ließ sich auf einen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Puh! Man sollte das Weib vergiften!«, verkündete er. Sarah schreckte hoch. »Mrs. Boynton?« »Wieso Mrs. Boynton? Nein, ich spreche von dieser Lady Westholme! Ich finde es einfach unglaublich, dass sie seit Jahren verheiratet ist und dass ihr Herr Gemahl es nicht schon längst getan hat! Was ist das nur für ein Mann?« Sarah lachte. »Nun, er ist einer von denen, die nur Jagen und Fischen im Kopf haben«, erwiderte sie. »Psychologisch gesehen absolut verständlich! Er lässt seinen wilden Drang zu töten an der so genannten niederen Kreatur aus.« »Angeblich ist er sehr stolz auf die Aktivitäten seiner Frau.« Der Franzose meinte trocken: »Weil sie ihre häufige Abwesenheit von zu Hause erfordern. Das kann ich gut verstehen.« Dann fuhr er fort: »Sagten Sie gerade Mrs. Boynton? Zweifellos wäre es eine ausgezeichnete Idee, auch diese Dame zu vergiften. Unbestreitbar die einfachste Lösung für die Probleme ihrer Familie! Man sollte überhaupt eine ganze Reihe von Frauen vergiften. Nämlich alle, die alt und hässlich geworden sind.« Er schnitt eine viel sagende Grimasse. Sarah rief lachend aus:    »Ach, ihr Franzosen! Eine Frau, die nicht jung und attraktiv ist, existiert für euch einfach nicht!« Gerard zuckte mit den Schultern. »Wir sind in dieser Hinsicht nur ehrlicher, das ist alles. Stehen etwa Engländer in der U-Bahn oder im Zug wegen einer hässlichen Frau auf? O nein!« »Das Leben ist schon deprimierend«, sagte Sarah und seufzte. »Sie haben keinen Grund zu seufzen, Mademoiselle.« »Ach, ich bin heute einfach schlecht gelaunt.« »V erständlich. « »Was heißt hier >verständlichDie moderne Frau hat eine durch und durch praktische Lebenseinstellung. < So in der Art. Aber das stimmt überhaupt nicht! Es gibt Frauen, die praktisch veranlagt sind, und andere, die es nicht sind. Es gibt Männer, die gefühlsbetont und verworren sind, und andere, die klar und logisch denken. Es ist alles nur eine Frage des Verstandes. Das Geschlecht spielt nur dort eine Rolle, wo es direkt um Sex geht.« Bei dem Wort »Sex« errötete Miss Pierce ein wenig und wechselte geschickt das Thema. »Man kann nicht umhin, sich nach ein klein wenig Schatten zu sehnen«, murmelte sie. »Dennoch finde ich, dass diese Leere etwas Wundervolles hat, meinen Sie nicht auch?« Sarah nickte. Ja, dachte sie, die Leere war tatsächlich wunderbar. Heilend und friedvoll. Keine Menschen, die einen mit ihren langweiligen zwischenmenschlichen Beziehungen nervten. Keine brennenden persönlichen Probleme! Erst jetzt hatte sie endlich das Gefühl, von den Boyntons frei zu sein. Befreit von dem seltsamen, unwiderstehlichen Drang, sich in das Leben von Leuten einzumischen, deren Welt die ihre nicht im Entferntesten berührte. Sie fühlte sich getröstet und mit sich selbst im Reinen. Hier war Einsamkeit, Leere, Weite. Und Frieden. Nur, dass man eben nicht allein war, um es auch genießen zu können! Lady Westholme und Dr. Gerard hatten das Thema Rauschgift abgeschlossen und disputierten nun über arglose junge Frauen, die mittels übler Machenschaften in argentinische Nachtlokale verschleppt wurden. Dr. Gerard hatte während des ganzen Gesprächs eine Leichtfertigkeit an den Tag gelegt, die Lady Westholme, die wie alle waschechten Politiker keinerlei Sinn für Humor besaß, nur bedauerlich finden konnte. »Wir jetzt fahren, ja?«, verkündete der Dragoman, dessen Kopf ein Fes zierte, und begann wieder über die Schandtaten der Juden zu lamentieren. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie schließlich Ma’an. Merkwürdige Männer mit wilden Gesichtern umringten den Wagen. Nach kurzem Aufenthalt ging die Fahrt weiter. Bei der Betrachtung der ebenen Wüstenlandschaft fragte sich Sarah, wo hier eigentlich die Felsenstadt Petra liegen sollte. Rundum konnte man meilenweit sehen, doch da war nichts! Nirgendwo Berge, nicht einmal Hügel. Waren sie denn immer noch so weit vom Ziel ihrer Reise entfernt? Sie erreichten das Dorf Wadi Musa, wo die Straße endete und man den Wagen zurücklassen musste. Dort warteten Pferde auf sie — klapprige, abgemagerte Tiere. Miss Pierce machte die Unzulänglichkeit ihres gestreiften Waschkleides sehr zu schaffen. Lady Westholme hatte sich vernünftigerweise für Breecheshosen entschieden, die ihre Figur zwar alles andere als vorteilhaft unterstrichen, aber zumindest praktisch waren. Die Pferde wurden auf einem abschüssigen, mit Geröll bedeckten Pfad aus dem Dorf geführt. Das Gelände senkte sich, und die Pferde trotteten im Zickzack bergab. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Sarah war von der langen, heißen Autofahrt erschöpft. Sie fühlte sich wie betäubt. Der Ritt hatte etwas Unwirkliches. Als sie später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte sich der Schlund der Hölle vor ihren Füßen aufgetan. Der Weg wand sich hinab — hinab in die Tiefe. Um sie herum ragten Felsformationen auf — und es ging noch immer hinab, hinab ins Innere der Erde, durch ein Labyrinth roter Felswände, die sich nun zu beiden Seiten auftürmten. Sarah glaubte, ersticken zu müssen — erdrückt zu werden von der immer enger werdenden Schlucht. Sie dachte benommen: Hinab in das Tal des Todes — hinab in das Tal des Todes. Weiter und weiter. Es wurde dunkel — das kräftige Rot der Felswände verblasste — und immer weiter auf dem gewundenen Pfad, eingesperrt, verschwunden im Inneren der Erde. Sie dachte: »Phantastisch und unglaublich. eine tote Stadt.« Und wieder gingen ihr die Worte »das Tal des Todes« im Kopf herum. Dann wurden Laternen angezündet. Die Pferde schoben sich durch die gewundenen engen Gänge. Plötzlich wichen die Felswände zurück, und sie traten in ein weites Tal hinaus. In der Ferne waren Lichter zu erkennen. »Das ist Camp!«, sagte der Führer. Die Pferde beschleunigten ihre Schritte — nicht sehr, denn dafür waren sie zu unterernährt und mutlos, aber sie ließen immerhin eine Spur von Begeisterung erkennen. Der Weg führte nun an einem ausgetrockneten Wadi entlang. Die Lichter kamen näher. Sie konnten eine Gruppe von Zelten ausmachen und weiter oben, direkt am Fuß einer steilen Felswand, eine weitere Reihe. Und Höhlen, die in den Fels gehauen worden waren. Sie waren am Ziel. Beduinische Diener kamen gelaufen. Sarah starrte zu einer der Höhlen hinauf. Eine Gestalt zeichnete sich dort ab. Was mochte das sein? Ein Idol? Ein mächtiges kauerndes Götzenbild? Nein, es war nur der flackernde Lichtschein, der die Figur so bedrohlich wirken ließ. Aber es musste irgendein Idol sein, was dort so regungslos verharrte und brütend herabblickte. Und dann machte Sarahs Herz plötzlich einen Satz, und sie wusste, was dort saß. Verflogen war das Gefühl von Ruhe und Frieden, von Ungebundenheit, das die Wüste ihr gegeben hatte. Sie war aus der Freiheit in die Gefangenschaft zurückgeführt worden. Sie war in dieses dunkle gewundene Tal hinuntergeritten, und hier saß, wie die Hohepriesterin eines vergessenen Kultes, wie ein monströser aufgedunsener weiblicher Buddha — Mrs. Boynton. Elftes Kapitel Mrs. Boynton war hier, hier in Petra! Sarah gab mechanisch Antwort auf die Fragen, die man ihr stellte. Ob sie gleich zu Abend essen wolle — es sei alles bereit — oder ob sie sich erst frisch machen wolle? Ob sie lieber im Zelt oder in einer Höhle zu schlafen wünsche? Die letzte Frage beantwortete sie, ohne zu zögern. Im Zelt. Der Gedanke an eine Höhle ließ sie zusammenzucken, und sie sah wieder die monströse kauernde Gestalt vor sich. (Wieso hatte man das Gefühl, dass diese Frau kaum menschliche Züge an sich hatte?) Dann folgte sie einem der einheimischen Diener. Er trug khakifarbene Reithosen, die an mehreren Stellen geflickt waren, schlampige Wickelgamaschen und ein zerschlissenes Herrenjackett, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dazu die Kefije, die traditionelle Kopfbedeckung der Beduinen, deren auch den Nacken bedeckende Fülle von einer eng um den Kopf geschlungenen schwarzen Seidenschnur zusammengehalten wurde. Sarah bewunderte den leichten, schwingenden Gang des Mannes, die selbstbewusste stolze Kopfhaltung. Geschmacklos und billig wirkten nur die europäischen Teile seiner Kleidung. Sie dachte: Zivilisation ist auch nicht das Wahre — nein, ganz und gar nicht! Wenn wir nicht so zivilisiert wären, gäbe es keine Mrs. Boynton! Bei den Wilden hätte man sie schon längst abgemurkst und verspeist! Leicht belustigt gestand sie sich ein, dass sie übermüdet und gereizt war. Aber nachdem sie sich mit heißem Wasser gewaschen und etwas Puder aufgetragen hatte, war sie wieder sie selbst — beherrscht, ausgeglichen und von ihrer panikartigen Reaktion vorhin peinlich berührt. Sie kämmte ihr dichtes schwarzes Haar und betrachtete sich dann im flackernden Licht einer kleinen Öllampe von allen Seiten in einem höchst unzulänglichen Spiegel. Dann schlug sie die Plane am Eingang zurück und trat hinaus in die Nacht, um zu dem weiter unten gelegenen großen Gemeinschaftszelt zu gehen. »Sie — hier?« Es klang wie ein leiser Aufschrei, verblüfft, ungläubig. Sie drehte sich um und blickte direkt in Raymond Boyntons Augen. Wie fassungslos sie sie ansahen! Aber da war noch etwas anderes, etwas, das Sarah sprachlos und beklommen machte. Eine unglaubliche Freude. als hätte der junge Mann einen Blick ins Paradies getan, so verwundert, benommen, dankbar, demütig! Ein Blick, den Sarah nie im Leben vergessen würde. Wie ein Verdammter, der aufschaut und das Paradies erspäht. Er sagte noch einmal: »Sie?« Der leise, bebende Ton seiner Stimme rührte etwas in ihr an. Er drehte ihr das Herz im Leibe um. Er machte sie scheu, ängstlich, demütig — und erfüllte sie doch jäh mit stolzer Freude. Sie sagte nur ein einziges Wort: »Ja.« Er kam näher, noch immer wie betäubt, wollte es noch immer nicht glauben. Dann griff er plötzlich nach ihrer Hand. »Sie sind es wirklich«, sagte er. »Sie sind hier! Zuerst dachte ich, Sie seien ein Geist — weil ich ständig an Sie denken muss.« Er hielt inne und sagte dann: »Ich liebe Sie nämlich. Ich liebe Sie seit dem Augenblick, als ich Sie im Zug das erste Mal sah. Das weiß ich jetzt. Und ich möchte, dass Sie es wissen, damit Sie — damit Sie wissen, dass nicht ich es bin — dass es nicht mein wahres Ich ist, das sich — das sich wie ein Schuft benimmt. Sehen Sie, selbst jetzt kann ich nichts versprechen. Ich könnte — mir ist alles zuzutrauen! Es könnte sein, dass ich grußlos an Ihnen vorbeigehe oder Sie keines Blickes würdige, aber Sie sollen wissen, dass das nicht ich bin — dass dafür nicht mein wahres Ich verantwortlich ist. Es sind nur meine schwachen Nerven. Sie lassen mich oft im Stich. Wenn sie sagt, dass ich das und das tun soll — dann tu ich es! Dann kann ich einfach nicht anders! Bitte haben Sie Verständnis dafür. Verachten Sie mich, wenn Sie wollen — « Sarah fiel ihm ins Wort. Leise und unerwartet sanft sagte sie: »Ich werde Sie deshalb nicht verachten.« »Aber ich habe Ihre Verachtung verdient! Ich bin — unfähig, mich wie ein Mann zu benehmen.« Teils war es die Erinnerung an Dr. Gerards Worte, mehr aber noch Sarahs eigenes Wissen und ihre Zuversicht, die ihre Antwort bestimmten und ihrer sanften Stimme einen Beiklang von Autorität und Überzeugungskraft verliehen. »Jetzt können Sie es.« »Meinen Sie?« Es klang versonnen. »Vielleicht.« »Jetzt haben Sie den Mut dazu. Das weiß ich.« Er richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken. »Mut? Ja, man muss nur den Mut aufbringen!« Plötzlich beugte er sich vor und berührte ihre Hand mit den Lippen. Gleich darauf war er gegangen. Zwölftes Kapitel Sarah ging hinunter zum Gemeinschaftszelt. Sie fand dort ihre drei Mitreisenden vor, die am Tisch saßen und aßen. Der Führer berichtete ihnen gerade, dass sich noch eine weitere Gruppe in Petra aufhielt. »Sie kommen vor zwei Tage. Gehen Tag nach morgen. Amerikaner. Mutter sehr dick, sehr schwer herbringen! Träger tragen in Stuhl — sagen, sehr schwere Arbeit — viel heiß — ja.« Sarah musste plötzlich laut lachen. So betrachtet hatte die ganze Sache durchaus auch ihre komischen Seiten! Der beleibte Dragoman sah sie dankbar an. Er hatte es wirklich nicht leicht. Lady Westholme hatte ihn im Laufe des Tages dreimal anhand des Baedekers widerlegt, und jetzt hatte sie etwas an dem Bett auszusetzen, in dem sie nächtigen sollte. Er war daher dankbar, dass wenigstens ein Mitglied seiner Gruppe unerklärlicherweise gute Laune zu haben schien. »Genau!«, sagte Lady Westholme. »Ich glaube, diese Leute waren auch im Solomon. Ich habe die Mutter gleich wieder erkannt, als wir hier eintrafen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie im Hotel mit ihr gesprochen haben, Miss King.« Sarah errötete schuldbewusst und konnte nur hoffen, dass Lady Westholme nicht allzu viel von dem bewussten Gespräch mit angehört hatte. Sie fragte sich gequält, was um alles in der Welt damals nur in sie gefahren war. Lady Westholme war unterdessen zu einem Urteil gelangt und verkündete: »Völlig uninteressante Leute. Sehr provinziell.« Miss Pierce brachte kriecherisch eifrige Zustimmung zum Ausdruck, woraufhin Lady Westholme zu einer ausführlichen Schilderung diverser interessanter und prominenter Amerikaner ansetzte, denen sie in letzter Zeit begegnet war. Da es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß war, wurde beschlossen, am nächsten Tag zeitig aufzubrechen. Um sechs Uhr früh versammelten sich die vier zum Frühstück. Von den Boyntons war nichts zu sehen. Nachdem Lady Westholme sich höchst kritisch über das nicht vorhandene Obst geäußert hatte, begnügten sie sich mit Tee, Dosenmilch, in Fett schwimmenden Spiegeleiern und versalzenen Speckstreifen. Danach machte man sich auf den Weg, auf dem Lady Westholme und Dr. Gerard — Letzterer mit deutlich weniger Begeisterung — die exakte Bedeutung von Vitaminen in der täglichen Kost sowie die richtige Ernährung der Arbeiterklasse erörterten. Dann waren plötzlich Rufe aus der Richtung des Camps zu hören, und so blieb man stehen, um auf den Mann zu warten, der ihnen nachgeeilt kam. Es war Mr. Jefferson Cope, dessen sympathisches Gesicht von der Anstrengung des schnellen Laufens gerötet war. »Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich Ihnen heute Vormittag gerne anschließen. Guten Morgen, Miss King. Was für eine Überraschung, Sie und Dr. Gerard hier zu treffen! Na, was sagen Sie dazu?« Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die phantastischen roten Felsformationen, die sich rundherum ausdehnten. »Es ist wunderschön und ein klein wenig Angst einflößend«, sagte Sarah. »Ich dachte immer, es wäre romantisch und verträumt — von wegen >die rosarote Stadt< und so. Aber es ist sehr viel realer, so real wie — wie ein rohes Beefsteak.« »Und hat auch fast die gleiche Farbe«, pflichtete ihr Mr. Cope bei. »Aber es ist wirklich großartig«, gab Sarah zu. Es begann bergauf zu gehen. Die Gruppe wurde von zwei Beduinen geführt, hoch gewachsenen Männern von ungezwungener Körperhaltung, die in ihren Nagelschuhen gelassen und absolut trittsicher den abschüssigen Hang hinaufstiegen. Schon bald traten die ersten Schwierigkeiten auf. Sarah und Dr. Gerard waren beide schwindelfrei. Aber sowohl Mr. Cope als auch Lady Westholme wurde es doch etwas mulmig, und die arme Miss Pierce musste über die steileren Stellen geradezu getragen werden, während sie mit geschlossenen Augen und ganz grün im Gesicht unablässig vor sich hin jammerte: »Ich konnte noch nie nach unten schauen. Noch nie — schon als Kind nicht!« Einmal äußerte sie die Absicht umzukehren, aber als sie zurückblickte und das Gefälle sah, wurde sie nur noch grüner und kam notgedrungen zu dem Schluss, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als weiterzugehen. Dr. Gerard beruhigte und ermutigte sie. Er ging unmittelbar hinter ihr und hielt, wie eine Art Geländer, einen Stock zwischen sie und den gähnenden Abgrund. Miss Pierce musste zugeben, dass diese vorgetäuschte Sicherheit viel dazu beitrug, ihre Höhenangst zu überwinden. Schwer atmend fragte Sarah den Dragoman, Mahmoud, dem trotz seiner Leibesfülle keinerlei Anzeichen von Erschöpfung anzumerken waren: »Haben Sie nie Probleme, wenn Sie Leute hier heraufführen? Zum  Beispiel ältere Menschen?« »Immer. Immer wir haben Problem«, bestätigte Mahmoud in aller Gemütsruhe. »Nehmen Sie denn jeden mit?« Mahmoud zog die schweren Schultern hoch. »Sie wollen hinauf. Sie haben bezahlt Geld, zu sehen viele Sachen. Darum sie wollen sehen alles. Die Beduinen sind sehr geschickt, sehr sicher auf Füßen. Sie bringen immer hinauf.« Endlich erreichten sie den Gipfel. Sarah holte tief Luft. Um sie herum und unter ihnen dehnten sich die blutroten Felsen aus — eine fremdartige und unglaubliche Landschaft, die absolut einmalig war. Hier oben, in der herrlichen reinen Morgenluft, standen sie wie Götter, die eine verachtenswerte Welt betrachten — eine Welt voll brodelnder Gewalt. Dies war, wie der Führer ihnen erklärte, der »Opferplatz« — der »heilige Bezirk«. Er zeigte ihnen die Rinne, die in den glatten Boden zu ihren Füßen gehauen war. Sarah entfernte sich von den anderen, von den oberflächlichen Phrasen, die dem Dragoman so flott über die Lippen kamen. Sie setzte sich auf einen Felsblock, schob mit beiden Händen ihr dichtes schwarzes Haar zurück und blickte hinunter auf die Welt, die zu ihren Füßen lag. Plötzlich merkte sie, dass jemand neben ihr stand. Dr. Gerard sagte: »Hier oben begreift man, wie zutreffend die Versuchung durch den Teufel im Neuen Testament ist. Der Teufel führte Jesus auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt. >Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.< Wie groß muss da erst die Versuchung sein, ein Gott mit realer Macht zu werden.« Sarah stimmte ihm zu, aber sie war so offensichtlich in Gedanken woanders, dass Gerard sie leicht erstaunt musterte. »Sie grübeln über etwas nach«, stellte er fest. »Allerdings.« Sie sah ihn mit leicht verwirrter Miene an. »Es war eine wunderbare Idee, hier oben eine Opferstätte zu errichten. Ich glaube nämlich, dass manchmal tatsächlich ein Opfer erforderlich ist... Ich will damit sagen, dass man auch zu viel Achtung vor dem Leben haben kann. Der Tod ist gar nicht so wichtig, wie wir tun.« »Wenn das Ihre Meinung ist, Miss King, dann haben Sie den Beruf verfehlt. Für uns Ärzte ist und bleibt der Tod immer der Feind.« Sarah erschauerte. »Sie haben vermutlich Recht. Trotzdem kann der Tod auch Probleme lösen. Er kann sogar ein erfüllteres Leben zur Folge haben.« »>Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn dass das ganze Volk verderbe!<«, zitierte Dr. Gerard mit ernster Stimme. Sarah sah ihn bestürzt an. »Ich wollte damit nicht sagen, dass — « Sie brach ab, da Jefferson Cope auf sie zukam. »Also, das ist wirklich ein ganz erstaunlicher Ort«, verkündete er. »Wirklich erstaunlich. Ich bin froh, dass ich mir das nicht habe entgehen lassen. Mrs. Boynton ist gewiss eine höchst bemerkenswerte Frau — ihren Mumm und ihre Entschlossenheit, hierher zu kommen, kann man nur bewundern —, aber ich muss gestehen, dass es nicht gerade einfach ist, mit ihr zu reisen. Ihre Gesundheit ist nicht die beste, was verständlicherweise wohl der Grund dafür ist, dass sie wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt, aber es scheint ihr einfach nicht in den Sinn zu kommen, dass ihre Familie gelegentlich mal gerne etwas ohne sie unternehmen würde. Sie ist es so gewöhnt, alle ständig um sich zu haben, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, dass — « Mr. Cope brach ab. Auf seinem freundlichen, sympathischen Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Unbehagen ab. »Wissen Sie«, sagte er, »ich habe da etwas über Mrs. Boynton erfahren, das mir ziemlich zu schaffen macht.« Während Sarah wieder ihren eigenen Gedanken nachhing und Mr. Copes Stimme nur angenehm wie das beruhigende Plätschern eines fernen Baches an ihr Ohr drang, reagierte Dr. Gerard sofort: »Ach ja? Was denn?« »Ich hörte es von einer Dame, mit der ich im Hotel in Tiberias ins Gespräch kam. Es ging dabei um ein Dienstmädchen, das bei Mrs. Boynton angestellt war. Das Mädchen soll — sie war wohl — « Mr. Cope hielt inne, warf feinfühlig einen Blick auf Sarah und senkte die Stimme. »Sie hat ein Kind erwartet. Die alte Dame kam anscheinend dahinter, war aber offenbar sehr nett zu der jungen Frau. Aber ein paar Wochen, bevor das Kind geboren wurde, hat sie sie hinausgeworfen. « Dr. Gerard zog die Augenbrauen hoch. »Sieh an«, sagte er nachdenklich. »Die Dame, die es mir erzählt hat, schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein. Ich weiß ja nicht, ob Sie mir zustimmen, aber ich finde ein solches Verhalten grausam und herzlos. Ich verstehe nicht, wie — « Dr. Gerard unterbrach ihn. »Sie sollten es aber versuchen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Mrs. Boynton ihre diebische Freude daran hatte.« Mr. Cope sah ihn schockiert an. »Nein, Sir«, sagte er entschieden. »Das glaube ich einfach nicht. So etwas ist absolut unvorstellbar.« Mit ruhiger Stimme zitierte Dr. Gerard: »Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschieht unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.« Er brach ab und sagte: »Sehen Sie, mein Lieber, ich beschäftige mich seit Jahren mit den seltsamen Dingen, die in der menschlichen Psyche vorgehen. Es nützt nichts, nur die schönere Seite des Lebens zu betrachten. Unter der Wohlanständigkeit und den Konventionen des täglichen Lebens liegt ein gewaltiges Reservoir seltsamer Dinge. Da gibt es beispielsweise so etwas wie die Lust, Grausamkeiten um ihrer selbst willen zu begehen. Aber wenn Sie auf sie stoßen, dann verbirgt sich dahinter noch etwas anderes. Das triebhafte und Mitleid erregende Verlangen nach Anerkennung. Wenn dieses Verlangen nicht befriedigt wird, wenn der betreffende Mensch aufgrund seiner Persönlichkeit unfähig ist, die Anerkennung zu finden, die er braucht, dann greift er zu anderen Mitteln — denn er muss Eindruck machen, er muss Erfolg haben —, was wiederum unzählige Perversionen zur Folge hat. Der Hang zur Grausamkeit lässt sich ebenso kultivieren wie jeder andere, er kann von einem Menschen Besitz ergreifen — « Mr. Cope hüstelte. »Ich glaube, dass Sie da doch etwas übertreiben, Dr. Gerard. Also die Luft hier oben ist wirklich herrlich.« Er zog sich zurück. Gerard musste lächeln. Er warf einen Blick auf Sarah. Ihre Stirn war gerunzelt, und in ihrem Gesicht zeichnete sich jugendliche Entschlossenheit ab. Gerard fand, dass sie aussah wie eine junge Richterin, die im Begriff ist, das Urteil zu verkünden. Er drehte sich um, da Miss Pierce auf unsicheren Beinen auf ihn zugetrippelt kam. »Wir wollen wieder hinunter«, plapperte sie aufgeregt. »Du meine Güte, das schaffe ich bestimmt nie und nimmer, aber der Führer sagt, dass wir eine andere Route nehmen, die viel leichter ist. Ich will es hoffen, denn ich konnte schon als Kind nicht in die Tiefe schauen.« Der Abstieg führte an einem Wasserfall entlang. Der Weg war zwar mit Geröll bedeckt, so dass man aufpassen musste, dass man sich nicht den Knöchel verstauchte, aber er bot immerhin keine Schwindel erregenden Ausblicke. Kurz nach zwei Uhr nachmittags traf die Gruppe müde, aber in guter Stimmung und mit einem Bärenhunger im Camp ein. An dem großen Tisch im Gemeinschaftszelt saß die Familie Boynton. Sie war gerade mit dem Mittagessen fertig. Lady Westholme ließ sich dazu herab, einige huldvolle Worte an sie zu richten. »Ein höchst interessanter Vormittag«, sagte sie. »Petra ist in der Tat ein wunderschönes Fleckchen Erde.« Carol, an die die Worte gerichtet zu sein schienen, warf rasch einen Blick auf ihre Mutter, murmelte: »O ja — ja, das ist es«, und verstummte wieder. Nachdem Lady Westholme dem Anstand somit Genüge getan hatte, konnte sie sich getrost ihrem Essen widmen. Während die vier aßen, wurden die Pläne für den Nachmittag erörtert. »Ich glaube, ich werde mich heute Nachmittag vor allen Dingen ausruhen«, sagte Miss Pierce. »Man darf sich auf keinen Fall zu viel zumuten.« »Ich werde losziehen und die Umgebung erkunden«, sagte Sarah. »Und Sie, Dr. Gerard?« »Ich werde Sie begleiten.« Mrs. Boynton ließ mit so lautem Geklapper ihren Löffel fallen, dass alle zusammenfuhren. »Ich glaube«, sagte Lady Westholme, »dass ich Ihrem Beispiel folgen werde, Miss Pierce. Ich werde ein halbes Stündchen lesen, mich dann hinlegen und mindestens eine Stunde schlafen. Danach vielleicht ein kleiner Spaziergang.« Mühsam, und mit Lennox’ Hilfe, erhob sich die alte Mrs. Boynton langsam von ihrem Stuhl. Sie blieb einen Moment stehen und sagte dann in überraschend liebenswürdigem Ton: »Ihr solltet heute Nachmittag alle einen Spaziergang machen.« Es war geradezu grotesk, die verblüfften Gesichter ihrer Angehörigen zu beobachten. »Und was ist mit dir, Mutter?« »Ich brauche euch nicht. Ich bin gerne allein, wenn ich lese. Jinny bleibt besser hier. Sie wird sich hinlegen und schlafen.« »Aber ich bin nicht müde, Mutter! Ich möchte auch mitgehen!« »Du bist müde. Und du hast Kopfschmerzen. Du musst auf deine Gesundheit achten. Geh und leg dich hin. Ich weiß schließlich, was gut für dich ist.« »Ich — ich — « Jinny hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sah ihre Mutter rebellisch an. Dann schlug sie die Augen nieder, verlor den Mut. »Dummes Kind«, sagte Mrs. Boynton. »Geh in dein Zelt!« Sie humpelte schwerfällig hinaus, und die anderen folgten ihr. »Du meine Güte«, sagte Miss Pierce. »Was sind das nur für Leute! Und diese befremdliche Gesichtsfarbe — der Mutter, meine ich. Richtig violett. Wahrscheinlich das Herz. Die Hitze macht ihr bestimmt zu schaffen.« Sarah dachte: »Sie gibt ihnen heute Nachmittag frei. Sie weiß, dass Raymond mit mir zusammen sein möchte. Warum tut sie das? Was steckt dahinter?« Diese Frage beschäftigte sie auch nach dem Mittagessen noch, als sie in ihr Zelt ging und ein frisches Leinenkleid anzog. Aus ihren Gefühlen für Raymond war seit dem Vorabend leidenschaftliche und beschützende Zuneigung geworden. Das also war Liebe — diese Qualen, die man für einen anderen litt, dieser brennende Wunsch, dem geliebten Wesen um jeden Preis Kummer zu ersparen. Ja, sie liebte Raymond Boynton. Und es war genau umgekehrt wie bei dem heiligen Georg und dem Drachen. Hier war sie der Retter und Raymond das wehrlose Opfer. Und Mrs. Boynton war der Drache. Ein Drache, dessen  plötzliche Liebenswürdigkeit für die misstrauische Sarah etwas entschieden Finsteres hatte. Es war ungefähr Viertel nach drei, als Sarah wieder zum Gemeinschaftszelt hinunterschlenderte. Lady Westholme saß auf einem Stuhl. Trotz der großen Hitze trug sie noch immer ihren strapazierfähigen Rock aus HarrisTweed. Auf ihrem Schoß lag der Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dr. Gerard unterhielt sich mit Miss Pierce, die vor ihrem Zelt stand und ein Buch in der Hand hielt, das »Sehnsucht nach Liebe« hieß und auf dem Klappentext als ein spannender Roman über die Irrungen und Wirrungen einer großen Leidenschaft beschrieben wurde. »Ich halte es nicht für klug, sich unmittelbar nach dem Mittagessen hinzulegen«, erklärte Miss Pierce. »Wegen der Verdauung, wissen Sie. Und im Schatten des Zeltes ist es geradezu angenehm kühl. Du meine Güte, ist das nicht ziemlich unvernünftig von der alten Dame, dort oben in der prallen Sonne zu sitzen?« Alle blickten zu dem Felsvorsprung hinauf. Mrs. Boynton saß wie am Vorabend reglos wie ein Buddha vor dem Eingang ihrer Höhle. Außer ihr war niemand zu sehen. Alle im Camp Beschäftigten schliefen. Nur etwas weiter weg war eine kleine Gruppe unterwegs, die talaufwärts ging. »Die liebe Mama scheint ihnen ausnahmsweise zu erlauben, sich einmal allein zu vergnügen«, sagte Dr. Gerard. »Oder ist das nur eine weitere Gemeinheit von ihr?« »Genau das habe ich mich gerade auch gefragt«, sagte Sarah. »Dass wir immer gleich das Schlimmste annehmen müssen! Kommen Sie, schließen wir uns den Ausreißern an.« Sie überließen Miss Pierce ihrer aufregenden Lektüre und machten sich auf den Weg. Kurz hinter der Biegung des Tales holten sie die Gruppe ein, die ziemlich langsam ging. Ausnahmsweise wirkten die Boyntons glücklich und unbekümmert. Schon bald unterhielten sich alle — Lennox und Nadine, Carol und Raymond, der glücklich lächelnde Mr. Cope sowie die beiden Neuankömmlinge, Sarah und Dr. Gerard — sehr lebhaft, und es wurde viel gelacht. Übermütige Ausgelassenheit machte sich breit. Jeder hatte das Gefühl, dass ihnen ein seltenes Vergnügen vergönnt war, eine rare Freude, die es voll auszukosten galt. Sarah und Raymond sonderten sich nicht ab. Sarah ging vielmehr neben Carol und Lennox, während dicht hinter ihnen Dr. Gerard mit Raymond plauderte. Nadine und Jefferson Cope folgten in geringem Abstand. Leider wurde die unbeschwerte Stimmung durch den Franzosen getrübt. Er war schon seit einiger Zeit ziemlich einsilbig gewesen. Nun blieb er plötzlich stehen. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Aber ich fürchte, ich muss umkehren.« Sarah musterte ihn. »Sind Sie krank?« Er nickte. »Ja. Ich habe schon seit dem Mittagessen Fieberanfälle.« Sarah betrachtete ihn eingehender. »Malaria?« »Ja. Ich gehe zurück und nehme Chinin. Hoffentlich ist es kein allzu schlimmer Anfall. Ein Andenken an einen Aufenthalt im Kongo.« »Soll ich mitkommen?«, fragte Sarah. »Aber nein! Ich habe alles Nötige in meiner Reiseapotheke. Wirklich zu ärgerlich! Lassen Sie sich durch mich bitte nicht stören.« Er ging mit schnellen Schritten in Richtung des Camps davon. Sarah sah ihm einen Moment unschlüssig nach, doch dann blickte sie in Raymonds Augen, lächelte ihn an, und der Franzose war vergessen. Eine Zeit lang gingen alle sechs — Carol, Sarah, Lennox, Mr. Cope, Nadine und Raymond — gemeinsam weiter. Dann hatten Sarah und Raymond sich auf einmal abgesetzt. Sie gingen allein weiter, kletterten Felsen hinauf, folgten schmalen Vorsprüngen und ließen sich schließlich an einem schattigen Plätzchen nieder. Geraume Zeit schwiegen beide, bis Raymond sagte: »Wie heißen Sie eigentlich? Ich kenne nur Ihren Nachnamen. Aber wie heißen Sie mit Vornamen?« »Sarah.« »Sarah. Darf ich Sie Sarah nennen?« »Natürlich.« »Sarah, würden Sie mir ein bisschen etwas über sich erzählen?« An die Felsen zurückgelehnt, begann sie zu erzählen, von ihrem Leben daheim in Yorkshire, von ihren Hunden und der Tante, die sie aufgezogen hatte. Dann war Raymond an der Reihe, der, etwas zusammenhanglos, von seinem eigenen Leben berichtete. Danach herrschte lange Schweigen. Wie zufällig fanden sich ihre Hände. So saßen sie da, wie Kinder, Hand in Hand, beide seltsam ruhig und zufrieden. Die Sonne stand schon tief, als Raymond sich aufraffte. — »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Nein, bleiben Sie noch. Ich möchte allein zurückgehen. Ich habe noch etwas zu erledigen. Wenn es getan ist, wenn ich mir bewiesen habe, dass ich kein Feigling bin, dann — dann — werde ich mich nicht scheuen, zu Ihnen zu kommen und Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Denn dann werde ich Hilfe brauchen, wahrscheinlich werde ich mir sogar Geld von Ihnen leihen müssen.« Sarah lächelte ihn an. »Ich bin froh, dass Sie so praktisch denken. Sie können auf mich zählen.« »Aber zuerst muss ich noch etwas alleine erledigen.« »Was denn?« Raymond Boyntons jungenhaftes Gesicht wurde plötzlich hart, und er sagte: »Ich muss beweisen, dass ich Mumm habe. Jetzt oder nie.« Dann machte er abrupt kehrt und ging. Sarah lehnte sich wieder an den Felsen und sah der sich entfernenden Gestalt nach. Raymonds Worte hatten sie irgendwie beunruhigt. Er hatte so angespannt gewirkt — so schrecklich ernst und erregt. Einen Moment lang wünschte sie, sie wäre mit ihm gegangen. Doch dann tadelte sie sich scharf. Raymond wollte das, was er vorhatte, allein durchstehen, wollte seinen neu gewonnenen Mut unter Beweis stellen. Das war sein gutes Recht. Aber sie betete von ganzem Herzen darum, dass ihn dieser Mut nicht im Stich ließ. Die Sonne ging schon unter, als Sarah wieder in Sichtweite des Camps kam. Beim Weitergehen konnte sie im Dämmerlicht die starren Umrisse von Mrs. Boynton ausmachen, die noch immer vor dem Eingang ihrer Höhle saß. Der Anblick der bedrohlichen, regungslosen Gestalt ließ Sarah erschauern. Sie eilte auf dem unterhalb des Felsens entlangführenden Pfad vorbei und betrat das hell erleuchtete Gemeinschaftszelt. Lady Westholme, einen Strang Wolle um den Hals gehängt, strickte an einem marineblauen Pullover. Miss Pierce bestickte einen Tischläufer mit anämischen blauen Vergissmeinnicht und wurde dabei über die einzige vernünftige Reform des Scheidungsrechts aufgeklärt. Die Diener kamen und gingen und bereiteten alles für das Abendessen vor. Die Boyntons saßen in Segeltuchstühlen am anderen Ende des Gemeinschaftszeltes und lasen. Mahmoud erschien, wohlbeleibt und würdevoll, und beklagte sich bitterlich. Sei sehr schöner Ausflug nach Teestunde geplant gewesen, aber niemand da. Jetzt ganzes Programm durcheinander. Nicht mehr sehen können sehr interessante nabatäische Architektur. Sarah sagte rasch, dass es ihnen auch so sehr gut gefallen habe. Sie ging in ihr Zelt, um sich vor dem Abendessen frisch zu machen. Auf dem Rückweg blieb sie vor Dr. Gerards Zelt stehen und rief leise: »Dr. Gerard?« Es kam keine Antwort. Sie schob die Plane vor dem Eingang beiseite und spähte hinein. Der Arzt lag regungslos auf dem Bett. Sarah zog sich geräuschlos zurück und hoffte, dass er schlief. Ein Diener kam ihr entgegen und deutete auf das Gemeinschaftszelt. Offenbar war das Essen fertig. Sie schlenderte wieder hinunter. Bis auf Dr. Gerard und Mrs. Boynton waren alle anderen bereits um den Tisch versammelt. Ein Diener wurde losgeschickt, um der alten Dame Bescheid zu sagen, dass das Essen fertig war. Dann entstand draußen plötzlich Unruhe. Zwei erschrockene Diener stürzten herein und redeten aufgeregt in Arabisch auf den Dragoman ein. Mahmoud blickte sich verwirrt um und ging hinaus. Sarah folgte ihm impulsiv. »Was ist passiert?« »Die alte Dame«, erwiderte Mahmoud. »Abdul sagt, sie krank — bewegt sich nicht.« »Ich komme mit.« Sarah machte sich sofort auf den Weg. Sie kletterte hinter Mahmoud den Abhang hinauf und folgte dem schmalen Pfad, bis sie zu der hockenden Gestalt kam, fasste nach der aufgedunsenen Hand, suchte den Puls, beugte sich vor. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie sehr blass. Sie ging zurück zum Gemeinschaftszelt. Am Eingang blieb sie kurz stehen und blickte zu der Gruppe am hinteren Ende des Tisches hinüber. Als sie sprach, klang ihre Stimme sogar für sie selbst barsch und unnatürlich. »Es tut mir sehr Leid«, sagte sie und zwang sich, ihre Worte an das Oberhaupt der Familie, an Lennox, zu richten. »Ihre Mutter ist tot, Mr. Boynton.« Und wie aus weiter Ferne beobachtete sie die Gesichter der fünf Menschen, für die diese Nachricht die Freiheit bedeutete. Teil II  Erstes Kapitel Colonel Carbury lächelte seinem Gast über den Tisch hinweg zu und erhob das Glas. »Also dann, auf das Verbrechen!« Hercule Poirots Augen funkelten angesichts dieses passenden Trinkspruchs. Er war mit einem Empfehlungsschreiben von Colonel Race zu Colonel Carbury nach Amman gekommen. Carbury war neugierig gewesen, den weltberühmten Meisterdetektiv kennen zu lernen, dessen Fähigkeiten sein alter Freund und Geheimdienstkollege in den höchsten Tönen gepriesen hatte. »Eine zwingende psychologische Schlussfolgerung, wie man sie besser nicht finden kann!«, hatte Race bezüglich der Aufklärung des Mordfalls Shaitana geschrieben. »Wir müssen Ihnen möglichst viel von der Umgebung zeigen«, sagte Carbury und zwirbelte seinen struppigen grau melierten Schnurrbart. Er war ein nachlässig gekleideter, untersetzter Mann mittlerer Größe mit Halbglatze und ausdruckslosen, sanften blauen Augen. Er sah überhaupt nicht wie ein Offizier aus. Er sah nicht einmal besonders hell aus. Und er entsprach in keiner Hinsicht dem, was man sich unter einem strengen Vorgesetzten vorstellt. Dennoch war er ein mächtiger Mann in Transjordanien. »Da wäre zum Beispiel Gerasa«, sagte er. »Interessiert Sie so was?« »Ich interessiere mich für alles!« »Ja«, sagte Carbury. »Das ist die einzig richtige Einstellung im Leben.« Er hielt inne. »Sagen Sie«, fuhr er fort, »stellen Sie gelegentlich fest, dass Ihr ganz spezieller Beruf Sie immer wieder einholt?« »Pardon?« »Anders herum gefragt:    Passiert es Ihnen, dass Sie irgendwo hinkommen, um Urlaub vom Verbrechen zu machen — und plötzlich tauchen überall Leichen auf?« »Dergleichen ist schon vorgekommen; mehr als einmal.« »Hm«, murmelte Colonel Carbury und wirkte noch geistesabwesender als sonst. Dann gab er sich einen Ruck. »Ich habe da nämlich eine Leiche, bei der mir nicht ganz wohl ist«, sagte er. »Tatsächlich? « »Ja. Hier in Amman. Eine alte Amerikanerin. Fuhr mit ihrer Familie nach Petra. Strapaziöse Reise, ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, hatte Herzprobleme, die alte Frau, die Reise war wohl doch ein bisschen anstrengender, als sie sich das vorgestellt hatte, übermäßige Belastung für ihr Herz — und da ist sie hops gegangen!« »Hier — in Amman?« »Nein, unten in Petra. Die Leiche wurde heute hergebracht.« »Ah!« »Alles ganz normal. Absolut möglich. So was passiert ja alle Tage. Nur dass.« »Ja? Nur dass?« Colonel Carbury kratzte sich den fast kahlen Schädel. »Ich habe das dumme Gefühl«, sagte er, »dass ihre Familie sie abgemurkst hat!« »Aha! Und wie kommen Sie darauf?« Colonel Carbury beantwortete Poirots Frage nicht direkt. »Unangenehme Person, wie es scheint. Kein großer Verlust. Ganz allgemein scheint jeder froh zu sein, dass sie das Zeitliche gesegnet hat. Wird extrem schwierig werden, etwas nachzuweisen, solange die Familie zusammenhält und notfalls lügt wie gedruckt. Man will ja keine Unannehmlichkeiten — oder internationale Verwicklungen. Das Einfachste wäre, die Finger davon zu lassen! Habe im Grunde ja nichts in der Hand. Ich kannte da mal einen Arzt. Der hat mir erzählt, dass er bei Todesfällen oft misstrauisch ist — dass da Patienten vor ihrer Zeit ins Jenseits befördert wurden. Und der sagte, dass man am besten den Mund hält, wenn man nicht verdammt gute Anhaltspunkte hat! Weil es sonst bloß Stunk gibt, nichts nachzuweisen ist und ein anständiger und gewissenhafter Mediziner bloß in Verruf gerät. So was in der Richtung. Trotzdem.« Er kratzte sich wieder den Kopf. »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch«, setzte er wider Erwarten hinzu. Colonel Carburys Krawattenknoten hing unter dem linken Ohr, seine Socken warfen Falten, sein Jackett war schmuddelig und abgewetzt. Dennoch lächelte Hercule Poirot nicht. Er hatte die methodische Arbeitsweise von Colonel Carburys Verstand genau erkannt, seine logische Auflistung der Fakten, seine sorgfältig geordneten Eindrücke. »Ja. Ich bin ein ordentlicher Mensch«, sagte Carbury. Er machte eine vage Handbewegung. »Kann Unordnung nun mal nicht leiden. Wenn wo Unklarheit herrscht, muss ich sie einfach beseitigen. Verstehen Sie das?« Hercule Poirot nickte ernst. Er konnte das gut verstehen. »Es gab keinen Arzt dort unten?«, fragte er. »Doch, zwei sogar. Einer davon lag allerdings mit Malaria im Bett. Bei dem anderen handelt es sich um eine junge Frau — hat gerade erst ihr Medizinstudium abgeschlossen. Scheint aber ihr Handwerk zu verstehen. Der Tod selbst war nicht weiter ungewöhnlich. Die alte Frau hatte ein schwaches Herz. Hatte schon seit Jahren Herzmittel genommen. Also nicht sonderlich überraschend, dass sie plötzlich den Löffel wegschmeißt.« »Was beunruhigt Sie dann, mein Freund?«, fragte Poirot sanft. Colonel Carburys blaue Augen blickten ihn gequält an. »Schon mal von einem Franzosen namens Gerard gehört? Theodore Gerard?« »Gewiss. Eine Kapazität auf seinem Gebiet.« »Klapsmühlen«, bestätigte Colonel Carbury. »Wenn man sich mit vier Jahren in die Putzfrau verknallt, hält man sich mit achtunddreißig für den Erzbischof von Canterbury. Ich habe zwar nie kapiert, wieso und warum, aber diese Psychofritzen können es sehr überzeugend erklären.« »Dr. Gerard ist zweifellos eine Autorität, was bestimmte Formen schwerer Psychosen betrifft«, pflichtete Poirot lächelnd bei. »Ist er — äh — sind seine — gehen seine Ansichten über den Vorfall in Petra in diese Richtung?« Colonel Carbury schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, nein. Wenn dem so wäre, würde ich mir ja keine Sorgen machen! Nicht, dass ich überhaupt nichts davon halte. Es sind nur einfach Dinge, die ich nicht verstehe — so wie bei einem meiner Beduinen, der mitten in der Wüste aus dem Auto steigen kann, mit der Hand über den Boden fährt und Ihnen fast auf die Meile genau sagt, wo Sie sind. Das hat nichts mit Zauberei zu tun, aber mir kommt es so vor. Nein, Dr. Gerards Aussage ist eindeutig. Nur nackte Tatsachen. Falls es Sie interessiert — und es interessiert Sie doch, oder?« »Aber ja!« »Großartig. Dann rufe ich kurz an und lasse Gerard holen, damit Sie alles von ihm selbst hören können.« Nachdem der Colonel einen Burschen losgeschickt hatte, sagte Poirot: »Wer sind die Angehörigen der Toten?« »Sie heißen Boynton. Zwei Söhne, einer davon verheiratet. Seine Frau sieht ausgesprochen gut aus — ruhiger, vernünftiger Typ. Und zwei Töchter. Beide ziemlich hübsch, aber auf ganz unterschiedliche Art. Die jüngere ist ein bisschen überdreht — könnte aber auch der Schock sein.« »Boynton«, sagte Poirot. Er runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig — sehr merkwürdig. « Carbury sah ihn fragend an. Aber da Poirot nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Scheint ziemlich klar zu sein, dass die Mutter ein Drachen war. Musste hinten und vorne bedient werden und ließ alle um sich herumscharwenzeln. Und sie hatte den Daumen auf dem Geldbeutel. Keiner von der Familie besaß auch nur einen Penny.« »Ah! Wirklich sehr interessant. Weiß man, wem sie ihr Geld hinterlassen hat?« »Genau die Frage habe ich auch gestellt — ganz nebenbei, versteht sich. Es wird zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt.« Poirot nickte bedächtig. Dann fragte er: »Sie sind also der Meinung, dass alle unter einer Decke stecken?« »Keine Ahnung. Genau da liegt ja der Haken! Ob die Sache gemeinsam geplant und ausgeführt wurde oder ob einer allein diesen glänzenden Einfall hatte — das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht ist das Ganze auch nur ein Windei! Kurz und gut, es läuft auf Folgendes hinaus: Ich hätte gern Ihre Meinung als Fachmann gehört. Ah, da kommt Gerard.« Zweites Kapitel Der Franzose kam mit schnellen, aber keineswegs hastigen Schritten herein. Während er Colonel Carbury die Hand schüttelte, warf er einen scharfen, neugierigen Blick auf Poirot. Carbury sagte: »Das ist Monsieur Hercule Poirot. Ist gerade bei mir zu Besuch. Habe mit ihm über die Angelegenheit unten in Petra gesprochen.« »Ach ja?« Gerards flinke Augen musterten Poirot von Kopf bis Fuß. »Die Sache interessiert Sie?« Hercule Poirot hob beide Hände hoch. »Das Interesse für das eigene metier ist leider unheilbar.« »Stimmt«, sagte Gerard. »Etwas zu trinken?«, fragte Carbury. Er schenkte einen Whisky Soda ein und setzte ihn Gerard vor. Er hielt die Karaffe fragend hoch, doch Poirot schüttelte den Kopf. Colonel Carbury stellte sie ab und rückte seinen Stuhl etwas näher. »Also«, sagte er, »wo waren wir?« »Wie ich höre«, sagte Poirot zu Gerard, »hat Colonel Carbury gewisse Vorbehalte.« Gerard machte eine viel sagende Handbewegung. »Und das«, sagte er, »ist allein meine Schuld! Dabei könnte ich durchaus Unrecht haben. Bitte vergessen Sie nicht, Colonel Carbury, dass ich Unrecht haben könnte.« Carbury grunzte nur. »Geben Sie Poirot die Fakten«, sagte er. Dr. Gerard begann mit einer knappen Zusammenfassung der Ereignisse, die der Reise nach Petra vorausgegangen waren. Er skizzierte kurz die einzelnen Mitglieder der Familie Boynton und beschrieb den Zustand emotionaler Anspannung, in dem sich alle befunden hatten. Poirot hörte aufmerksam zu. Dann schilderte Gerard die Ereignisse des ersten Tages in Petra und erläuterte, weshalb er ins Lager zurückgekehrt war. »Ich hatte einen schweren Malariaanfall — Malaria cerebralis«, erklärte er. »Ich beschloss daher, mir intravenös Chinin zu injizieren. Das ist die übliche Behandlungsmethode.« Poirot nickte zustimmend. »Das Fieber war schon ziemlich hoch. Ich wankte geradezu in mein Zelt. Zuerst konnte ich nirgendwo meine Reiseapotheke finden, irgendjemand hatte sie an einen anderen Platz gestellt. Als ich sie dann gefunden hatte, konnte ich nirgends meine Spritze finden. Ich suchte eine Weile, gab es dann auf und nahm oral eine hohe Dosis Chinin ein und warf mich aufs Bett.« Gerard hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Mrs. Boyntons Tod wurde erst nach Sonnenuntergang entdeckt. Aufgrund der Art und Weise, wie sie dasaß und wie der Stuhl ihren Körper stützte, hatte sich an ihrer Haltung nichts verändert, und so bemerkte man erst, als einer der Boys sie um halb sieben zum Abendessen holen wollte, dass etwas nicht stimmte.« Er schilderte detailliert die Lage der Höhle und die Entfernung zwischen Höhle und Gemeinschaftszelt. »Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Tote. Sie wollte mich nicht stören, da sie wusste, dass ich Fieber hatte. Außerdem konnte man ohnehin nichts mehr tun. Mrs. Boynton war tot — und das schon seit einiger Zeit.« Poirot murmelte: »Wie lange genau?« Gerard sagte langsam: »Ich glaube nicht, dass Miss King dieser Frage besondere Aufmerksamkeit schenkte. Sie hielt sie, meiner Meinung nach, nicht für wichtig.« »Kann man wenigstens mit Bestimmtheit sagen, wann sie zuletzt lebend gesehen wurde?«, fragte Poirot. Colonel Carbury räusperte sich und griff nach einem amtlich aussehenden Schriftstück. »Lady Westholme und Miss Pierce sprachen kurz nach vier Uhr nachmittags mit Mrs. Boynton. Lennox Boynton sprach gegen halb fünf mit seiner Mutter. Etwa fünf Minuten später hatte Mrs. Lennox Boynton ein längeres Gespräch mit ihr. Auch Carol Boynton wechselte einige Worte mit ihrer Mutter, kann aber nicht genau sagen, wann — nach Aussagen anderer scheint das etwa zehn Minuten nach fünf gewesen zu sein. Jefferson Cope, ein amerikanischer Freund der Familie, der mit Lady Westholme und Miss Pierce ins Camp zurückkam, sah, dass sie schlief. Er sprach sie also nicht an. Das war ungefähr zwanzig Minuten vor sechs. Der Letzte, der sie lebend gesehen hat, scheint Raymond Boynton gewesen zu sein, der jüngere Sohn. Er kam etwa zehn Minuten vor sechs von einem Spaziergang zurück und sprach mit ihr. Entdeckt wurde die Leiche um halb sieben, als ein Diener die alte Dame zum Essen holen sollte.« »Und nachdem Mr. Raymond Boynton mit ihr gesprochen hatte, kam bis halb sieben niemand in ihre Nähe?«, erkundigte sich Poirot. »Angeblich nicht.« »Aber es könnte jemand zu ihr gegangen sein?«, hakte Poirot nach. »Das glaube ich kaum. Ab kurz vor sechs waren ständig Diener im Camp unterwegs, und die Gäste gingen zwischen den Zelten hin und her. Wir haben keinen gefunden, der jemand zu ihr gehen sah.« »Dann war Raymond Boynton definitiv der Letzte, der seine Mutter lebend sah?«, fragte Poirot. Dr. Gerard und Colonel Carbury wechselten einen raschen Blick. Colonel Carbury trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Genau da fängt die Sache an, kompliziert zu werden«, sagte er. »Fahren Sie fort, Gerard. Sie waren schließlich vor Ort.« »Wie ich bereits erwähnte, sah Sarah King, als sie Mrs. Boynton untersuchte, keine Veranlassung, die exakte Todeszeit festzustellen. Sie sagte lediglich, Mrs. Boynton sei >schon einige Zeit< tot gewesen, aber als ich am Tag darauf aus persönlichen Gründen versuchte, alles etwas genauer einzugrenzen und zufällig erwähnte, dass Mrs. Boynton kurz vor sechs zuletzt lebend gesehen worden sei, und zwar von ihrem Sohn Raymond, sagte Miss King zu meiner großen Überraschung schlankweg, dass das ausgeschlossen sei — dass Mrs. Boynton zu der Zeit bereits tot gewesen sein müsse.« Poirot zog die Augenbrauen hoch. »Eigenartig. Höchst eigenartig. Und was hat Monsieur Raymond Boynton dazu zu sagen?« Colonel Carbury antwortete prompt. »Er schwört, dass seine Mutter da noch am Leben war. Er ging zu ihr und sagte: >Ich bin wieder da. Hattest du einen angenehmen Nachmittag?<, oder etwas in der Art. Er sagt, sie habe nur gemurmelt: >Ja, durchaus<, woraufhin er in sein Zelt ging.« Poirot runzelte verwirrt die Stirn. »Sonderbar«, sagte er. »Höchst sonderbar. Sagen Sie, wurde es zu der Zeit bereits dunkel?« »Die Sonne ging gerade unter.« »Sonderbar«, sagte Poirot noch einmal. »Und Sie, Dr. Gerard, wann sahen Sie die Tote?« »Erst am nächsten Morgen. Um neun, um genau zu sein.« »Und wann, schätzen Sie, war der Tod eingetreten?« Der Franzose zuckte mit den Schultern. »So lange danach lässt sich das kaum mit Bestimmtheit sagen. Man muss immer einen Spielraum von mehreren Stunden einkalkulieren. Wenn ich unter Eid aussagen müsste, könnte ich nur sagen, dass sie mit Sicherheit seit zwölf Stunden tot war, aber nicht länger als achtzehn. Sie sehen, das hilft uns nicht weiter.« »Fahren Sie fort, Gerard«, sagte Colonel Carbury. »Erzählen Sie ihm den Rest der Geschichte.« »Als ich morgens aufstand«, sagte Dr. Gerard, »war meine Spritze wieder da. Sie lag hinter einigen Fläschchen auf meinem T oilettentisch.« Er beugte sich vor. »Sie werden vielleicht sagen, dass ich sie am Vortag schlicht übersehen hatte. Mir war furchtbar elend, ich hatte Fieber und Schüttelfrost, und wie oft sucht man etwas, das die ganze Zeit da ist, und findet es trotzdem nicht! Ich kann nur sagen, dass ich absolut sicher bin, dass die Spritze am Tag davor nicht da war.« »Aber das ist noch nicht alles«, sagte Carbury. »Nein. Ich sollte noch zwei weitere Dinge erwähnen, die wichtig sein könnten. Am Handgelenk der Toten befand sich ein kleiner Einstich — wie von einer subkutan verabreichten Injektion. Die Tochter behauptet allerdings, dass er von einem gewöhnlichen Nadelstich stammt — « Poirot machte eine Bewegung. »Welche Tochter?« »Carol Boynton.« »Ah. Bitte fahren Sie fort.« »Und ein letzter Punkt. Als ich zufällig in meine Reiseapotheke sah, bemerkte ich, dass mein Vorrat an Digitoxin stark abgenommen hatte.« »Digitoxin«, sagte Poirot, »ist ein giftiges Herzmittel, nicht wahr?« »Ja. Es wird aus Digitalis purpurea gewonnen, dem gewöhnlichen Roten Fingerhut. Er besitzt vier aktive Grundbestandteile: Digitalin, Digitonin, Digitalein und Digitoxin. Von diesen gilt Digitoxin als giftigster Wirkstoff der Digitalis-Blätter. Versuche haben gezeigt, dass es sechs- bis zehnmal stärker ist als Digitalin oder Digitalein. In Frankreich ist es zugelassen — aber es steht nicht in der offiziellen englischen Arzneimittelliste.« »Und was bewirkt eine hohe Dosis Digitoxin?« Dr. Gerard sagte sehr ernst: »Eine hohe Dosis Digitoxin, die durch intravenöse Injektion direkt in den Blutkreislauf gelangt, führt zum sofortigen Tod durch Herzlähmung. Man schätzt, dass vier Milligramm für einen erwachsenen Mann tödlich sind.« »Und Mrs. Boynton war bereits herzkrank?« »Ja. Genau gesagt nahm sie sogar ein Medikament, das Digitalin enthält.« »Das«, erklärte Poirot, »ist wirklich sehr interessant.« »Wollen Sie damit sagen«, fragte Colonel Carbury, »dass ihr Tod auf eine Überdosis ihrer eigenen Medizin zurückzuführen sein könnte?« »Ja — das wäre möglich. Aber ich dachte dabei noch an etwas anderes.« »In gewissem Sinn«, sagte Dr. Gerard, »könnte man Digitalin als ein kumulativ wirkendes Arzneimittel bezeichnen. Und was den Obduktionsbefund betrifft, so können die Wirkstoffe von Digitalis töten, ohne Spuren zu hinterlassen.« Poirot nickte langsam zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Ja, das ist raffiniert — sehr raffiniert. Es ist also praktisch unmöglich, es vor Gericht nachzuweisen. Nun, meine Herren, eines kann ich Ihnen versichern: Falls es sich hier um Mord handelt, dann um einen ganz raffinierten! Die Spritze wird zurückgelegt, das Gift, das benutzt wird, ist ein Gift, das das Opfer schon des Längeren einnahm — genügend Möglichkeiten, dass ein Irrtum oder ein Unfall vorliegt. O ja, hier war ein kluger Kopf am Werk. Dahinter steckt Überlegung — Sorgfalt — Genialität.« Er saß ein Weilchen schweigend da, dann hob er den Kopf. »Etwas ist mir allerdings ein Rätsel.« »Und das wäre?« »Der Diebstahl der Spritze.« »Sie wurde entwendet«, sagte Dr. Gerard rasch. »Entwendet — und zurückgebracht?« »Ja.« »Seltsam«, sagte Poirot. »Sehr seltsam. Alles andere passt vortrefflich zusammen.« Colonel Carbury sah ihn neugierig an. »Nun?«, sagte er dann. »Wie lautet Ihr fachmännisches Urteil? War es Mord — oder war es kein Mord?« Poirot hielt abwehrend die Hand hoch. »Geduld. So weit sind wir noch nicht. Man muss noch weitere Indizien in Erwägung ziehen.« »Was denn für Indizien? Sie kennen doch schon alle.« »Ah, aber hier handelt es sich um ein Indiz, das ich, Hercule Poirot, beisteuere.« Er nickte nachdrücklich und lächelte ein wenig über die erstaunten Gesichter der beiden anderen. »Ja, es ist kurios, das. Dass ich, dem Sie die Geschichte erzählen, meinerseits in der Lage bin, ein Indiz zu liefern, von dem Sie nichts wissen. Es war so. Im Hotel Solomon gehe ich eines Abends zum Fenster, um mich zu vergewissern, dass es geschlossen ist — « »Geschlossen — oder offen?«, fragte Carbury. »Geschlossen«, sagte Poirot bestimmt. »Es war offen, also gehe ich natürlich, es zu schließen. Aber bevor ich das mache, als meine Hand schon auf dem Griff liegt, höre ich eine Stimme — eine angenehme Stimme, leise und deutlich, die vor Erregung ein wenig zittert. Ich sage zu mir, das ist eine Stimme, die ich wieder erkennen werde. Und was sagt sie, diese Stimme? Sie sagt die Worte: >Du siehst doch ein, dass sie muss?<« »Naturellement«, fuhr er fort, »denke ich in diesem Moment nicht, dass die Worte sich auf einen Mord aus Fleisch und Blut beziehen. Ich halte sie für die Worte eines Schriftstellers oder vielleicht eines Bühnenautors. Aber jetzt — bin ich mir nicht mehr so sicher. Das heißt, ich bin sicher, dass es sich anders verhielt.« Wieder hielt er kurz inne, bevor er weitersprach: »Messieurs, so viel kann ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen sagen: Diese Worte wurden gesprochen von einem jungen Mann, den ich später in der Hotelhalle sah und der, wie man mir auf meine Nachfrage mitteilte, ein junger Mann namens Raymond Boynton war.« Drittes Kapitel »Raymond Boynton sagte das?«, rief der Franzose verblüfft aus. »Halten Sie das für unwahrscheinlich — psychologisch gesehen?«, erkundigte sich Poirot ruhig. Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht behaupten. Ich bin nur überrascht. Ich will damit sagen, dass ich überrascht bin, weil Raymond Boynton sich geradezu als Verdächtiger anbot.« Colonel Carbury seufzte. Der Seufzer schien zu besagen, man möge ihn mit diesem Psychokram verschonen. »Fragt sich nur«, knurrte er, »wie es jetzt weitergehen soll.« Gerard zuckte mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie unternehmen können«, bekannte er. »Die vorhandenen Indizien sind ohne Beweiskraft. Selbst wenn Sie überzeugt sind, dass es Mord war, wird es schwierig sein, ihn nachzuweisen. « »Ich verstehe«, sagte Colonel Carbury. »Wir haben zwar den Verdacht, dass es Mord war, aber wir lehnen uns gemütlich zurück und drehen Däumchen! Das geht mir gegen den Strich!« Wie zur Erklärung fügte er den merkwürdigen Satz hinzu, den er schon einmal gesagt hatte: »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch.« »Ich weiß. Ich weiß.« Poirot nickte mitfühlend. »Sie möchten sich Klarheit verschaffen. Sie möchten definitiv und ganz genau wissen, was geschehen ist und wie es geschah. Und Sie, Dr. Gerard? Sie haben gesagt, dass man nichts unternehmen kann — dass das vorliegende Material keine Beweiskraft hat? Das trifft vermutlich zu. Aber sind Sie damit zufrieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen?« »Sie war ein übles Subjekt«, sagte Gerard bedächtig. »Außerdem wäre sie vermutlich bald gestorben — in einer Woche, einem Monat, einem Jahr.« »Sie sind also zufrieden?«, hakte Poirot nach. »Es besteht nicht der geringste Zweifel«, fuhr Gerard fort, »dass ihr Tod — wie soll ich mich ausdrücken — ein Segen für die Allgemeinheit ist. Er hat ihren Familienangehörigen die Freiheit geschenkt. Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich zu entfalten — sie besitzen alle, wie ich meine, einen guten Charakter und Verstand. Sie werden — endlich — nützliche Mitglieder der Gesellschaft sein! Wie ich es sehe, hat der Tod von Mrs. Boynton nur Positives zur Folge.« Poirot fragte zum dritten Mal: »Sie sind also zufrieden?« »Nein.« Gerard schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin nicht >zufrieden<, wie Sie sich auszudrücken belieben! Es liegt in meiner Natur, Leben zu erhalten — nicht den Tod zu beschleunigen! Auch wenn mir mein Verstand noch so oft sagt, dass der Tod dieser Frau eine gute Sache war, lehnt sich unbewusst alles in mir dagegen auf! Es ist nicht recht, Gentlemen, dass ein Mensch stirbt, bevor seine Zeit gekommen ist.« Poirot lächelte und lehnte sich zurück, zufrieden mit der Antwort, die er auf sein hartnäckiges Nachfragen erhalten hatte. Colonel Carbury stellte nüchtern fest: »Der Mann hat was gegen Mord! Mit Recht! Geht mir genauso.« Er stand auf und schenkte sich einen großen Whisky Soda ein. Die Gläser seiner Gäste waren noch voll. »Und jetzt«, sagte er, wieder zum Thema kommend, »wollen wir mal Nägel mit Köpfen machen. Was können wir in dieser Sache unternehmen? Dass sie uns nicht gefällt, steht fest! Aber wir werden uns vielleicht wohl oder übel damit abfinden müssen. Es hat keinen Zweck, einen Riesenwirbel zu veranstalten, wenn wir keine hieb- und stichfesten Beweise auf den Tisch legen können.« Gerard beugte sich vor. »Was meinen Sie, Monsieur Poirot? Sie sind schließlich der Experte.« Poirot ließ sich mit der Antwort Zeit. Pedantisch rückte er den einen oder anderen Aschenbecher zurecht und schob die benutzten Streichhölzer zu einem Häufchen zusammen. Dann sagte er: »Sie möchten natürlich gerne wissen, Colonel Carbury, wer Mrs. Boynton getötet hat, nicht wahr? Das heißt, falls sie getötet wurde und nicht eines natürlichen Todes starb. Exakt wie und wann sie getötet wurde — also die ganze Wahrheit?« »Richtig. Genau das.« Carburys Ton war ruhig und sachlich. Hercule Poirot sagte langsam: »Ich wüsste nicht, was Sie daran hindern sollte!« Dr. Gerard blickte ungläubig drein. Colonel Carbury sah Poirot interessiert an. »Ach was!«, sagte er. »Tatsächlich? Ist ja hochinteressant. Und wie wollen Sie das anstellen?« »Durch methodische Auswertung der Indizien, durch exakte Schlussfolgerungen.« »Meinen Segen haben Sie«, sagte Colonel Carbury. »Und mittels sorgfältiger Prüfung der psychologischen Aspekte.« »Dr. Gerard wird sich freuen, das zu hören«, sagte Carbury. »Und Sie glauben, wenn Sie die Indizien geprüft und Ihre Schlüsse gezogen haben und nebenher ein bisschen Psychologie angewandt haben, dass Sie dann — Simsalabim! — das Kaninchen aus dem Zylinder zaubern können?« »Ich wäre höchst überrascht, wenn mir selbiges nicht gelänge«, sagte Poirot ruhig. Colonel Carbury starrte ihn über das Whiskyglas hinweg an. Einen Moment lang waren seine ausdruckslosen Augen ganz und gar nicht ausdruckslos, sondern abschätzend und taxierend. Er stellte sein Glas ab und brummte: »Was meinen Sie dazu, Dr. Gerard?« »Ich muss gestehen, dass ich skeptisch bin, was den Erfolg betrifft. Obwohl ich natürlich weiß, dass Monsieur Poirot große geistige Fähigkeiten besitzt.« »Ja, ich bin eine Naturbegabung«, sagte der kleine Mann. Er lächelte bescheiden. Colonel Carbury wandte das Gesicht ab und hüstelte. Poirot sagte: »Als Erstes müssen wir klären, ob dies ein von mehreren Personen gemeinsam begangener Mord ist, also ob er von der Familie Boynton als Ganzes geplant und ausgeführt wurde — oder ob es sich um die Tat eines einzelnen Familienmitglieds handelt. Im zweiten Fall ist zu klären, wer von ihnen am ehesten als Täter in Frage kommt.« Dr. Gerard sagte: »Da wäre Ihre eigene Aussage. Man müsste wohl als Erstes Raymond Boynton in Betracht ziehen.« »Ich stimme Ihnen zu«, sagte Poirot. »Die Bemerkung, die ich zufällig hörte, und die Diskrepanz zwischen seiner Aussage und dem, was die junge Ärztin sagt, machen ihn eindeutig zum Hauptverdächtigen. « »Er war der Letzte«, fuhr er fort, »der Mrs. Boynton lebend sah. Das behauptet er jedenfalls. Sarah King widerspricht ihm in diesem Punkt. Sagen Sie, Dr. Gerard, gibt es — äh — Sie wissen, was ich meine — eine, sagen wir, gewisse tendresse zwischen den beiden?« Der Franzose nickte. »Ganz zweifellos.« »Aha! Ist diese junge Dame brünett, trägt das Haar aus der Stirn nach hinten gekämmt — so — und hat sie große braune Augen und ein entschiedenes Auftreten?« Dr. Gerard schien überrascht zu sein, »ja, das beschreibt sie sehr gut.« »Ich glaube, ich habe sie schon gesehen — im Hotel Solomon. Sie sprach mit diesem Raymond Boynton, und danach blieb er wie in Trance, versperrte den Ausgang aus dem Fahrstuhl. Dreimal musste ich sagen >Pardon!<, bevor er mich hörte und aus dem Weg ging.« Er hing eine Weile seinen Gedanken nach und sagte dann: »Wir werden Miss Sarah Kings medizinischen Befund für den Anfang also mit gewissen Vorbehalten zur Kenntnis nehmen. Sie ist befangen.« Er schwieg und fuhr dann fort: »Sagen Sie, Dr. Gerard, glauben Sie, dass Raymond Boynton von der Veranlagung her fähig ist, ohne weiteres einen Mord zu begehen?« Gerard antwortete langsam: »Sie meinen, einen vorsätzlichen, geplanten Mord? Ja, das halte ich für möglich — aber nur in einem Zustand größter emotionaler Anspannung. « »Und war dies der Fall?« »Unbedingt. Diese Reise ins Ausland steigerte zweifellos die nervliche und psychische Anspannung, unter der alle standen. Der Gegensatz zwischen ihrem eigenen Leben und dem anderer Menschen wurde ihnen bewusster. Und bei Raymond Boynton.« »Ja?« »Bei ihm wurde die Sache noch dadurch kompliziert, dass er sich stark zu Sarah King hingezogen fühlte.« »Und das hätte ihm ein weiteres Motiv gegeben? Und einen zusätzlichen Antrieb?« »So ist es.« Colonel Carbury hüstelte. »Wenn ich mal unterbrechen darf. Dieser Satz, den Sie da gehört haben — du siehst doch ein, dass sie sterben muss? —, der muss doch an irgendwen gerichtet gewesen sein.« »Ein wichtiger Punkt«, sagte Poirot. »Er war mir keineswegs entgangen. Alors, mit wem sprach Raymond Boynton? Zweifellos mit einem Mitglied seiner Familie. Aber mit welchem? Können Sie uns etwas über die psychische Verfassung der anderen Familienmitglieder sagen, Dr. Gerard?« Gerard antwortete unverzüglich: »Carol Boynton war in einem ganz ähnlichen Zustand wie Raymond, würde ich sagen — in einem Zustand der Auflehnung, verbunden    mit einer hochgradigen nervösen Erregung, aber in ihrem Fall ohne die zusätzliche Belastung durch eine sexuelle Komponente. Lennox Boynton hatte das Stadium der Auflehnung bereits hinter sich. Er war in Apathie versunken. Ich glaube, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Reaktion auf seine Umwelt bestand darin, sich mehr und mehr in sich selbst zurückzuziehen. Er ist extrem introvertiert.« »Und seine Frau?« »Seine Frau war zwar müde geworden und unglücklich, ließ aber keine Anzeichen einer psychischen Störung erkennen. Ich glaube, sie stand kurz vor einer Entscheidung. « »Was für einer Entscheidung?« »Ob sie ihren Mann verlassen sollte oder nicht.« Er berichtete von seinem Gespräch mit Jefferson Cope. Poirot nickte verständnisvoll. »Was ist mit dem jüngeren Mädchen — Ginevra, wenn ich mich nicht irre?« Das Gesicht des Franzosen wurde ernst. Er sagte: »Meiner Meinung nach ist sie psychisch in einem äußerst gefährlichen Zustand. Sie zeigt bereits die ersten Anzeichen von Schizophrenie. Da sie die in ihrem Leben herrschende Unterdrückung nicht ertragen kann, flüchtet sie sich in eine Traumwelt. Sie leidet an Verfolgungswahn im fortgeschrittenen Stadium — das heißt, sie behauptet, königlichen Geblüts zu sein, in Gefahr zu schweben, von Feinden umringt zu sein und so weiter — das Übliche!« »Und das ist — gefährlich?« »Sehr gefährlich sogar. Es ist häufig der Beginn eines zwanghaften Tötungsdrangs. Der Kranke tötet nicht aus Mordgier, sondern aus Notwehr. Er tötet, um nicht selbst getötet zu werden. Aus der Sicht des Patienten ist das absolut rational.« »Sie glauben also, Ginevra Boynton könnte ihre Mutter getötet haben?« »Ja. Aber ich bezweifle, dass sie über das Wissen oder die Zielstrebigkeit verfügt, einen Mord in der Form auszuführen, wie er hier begangen wurde. Die Vorgehensweise dieser Art manisch-depressiver Patienten ist im Allgemeinen sehr direkt und durchschaubar. Und ich bin mir fast sicher, dass Ginevra Boynton eine spektakulärere Methode gewählt hätte.« »Aber man muss sie als Täter in Betracht ziehen?«, hakte Poirot nach. »Ja«, räumte Gerard ein. »Und danach — nachdem die Tat begangen war? Glauben Sie, dass die ganze Familie weiß, wer sie begangen hat?« »Sie wissen es!«, sagte Colonel Carbury unvermittelt. »Wenn mir jemals ein Grüppchen untergekommen ist, das etwas zu verbergen hatte — dann diese Familie! Die machen uns doch alle was vor!« »Wir werden sie dazu bringen, uns zu sagen, was dahinter steckt«, erwiderte Poirot. »Daumenschrauben?«, meinte Colonel Carbury. »Nein.« Poirot schüttelte den Kopf. »Nur eine ganz normale Unterhaltung. Im Großen und Ganzen erzählen einem die Leute nämlich die Wahrheit. Weil es das Einfachste ist! Weil es weniger anstrengend für die Phantasie ist! Man kann einmal zu einer Lüge greifen, zweimal oder dreimal, sogar viermal — aber man kann nicht immer lügen. Und darum kommt die Wahrheit stets ans Licht.« »Da ist was dran«, räumte Carbury ein. Dann sagte er geradeheraus: »Sie werden also mit ihnen reden, wie Sie sagen. Heißt das, dass Sie die Sache übernehmen? « Poirot deutete eine Verbeugung an. Dann sagte er: »Lassen Sie uns etwas klarstellen. Sie wollen die Wahrheit wissen, und ich verpflichte mich, sie Ihnen zu liefern. Aber vergessen Sie eines nicht: Selbst wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben, wird es vielleicht keine Beweise geben. Das heißt, keine Beweise, die vor Gericht Bestand hätten. Sie verstehen, was ich meine?« »Vollkommen«, sagte Carbury. »Sie sorgen dafür, dass ich erfahre, was wirklich passiert ist, und dann liegt es bei mir zu entscheiden, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht — unter Berücksichtigung der internationalen Aspekte. Auf jeden Fall wird die Sache aufgeklärt. Keine Unklarheiten. Kann Unklarheiten nicht ausstehen.« Poirot lächelte. »Und noch etwas«, sagte Carbury. »Ich kann Ihnen nicht viel Zeit geben. Kann die Leute ja nicht ewig hier behalten.« Poirot sagte ruhig: »Sie können sie vierundzwanzig Stunden festhalten. Morgen Abend werden Sie die Wahrheit wissen.« Colonel Carbury sah ihn scharf an. »Ganz schön selbstsicher, wie?« »Ich kenne meine Fähigkeiten«, murmelte Poirot. Colonel Carbury, von dieser zutiefst unenglischen Äußerung peinlich berührt, wandte den Blick ab und zupfte an seinem struppigen Schnurrbart herum. »Tja«, brummte er, »es liegt an Ihnen.« »Wenn Sie das schaffen, mein Freund«, sagte Dr. Gerard, »dann sind Sie in der Tat ein Genie!« Viertes Kapitel Sarah King musterte Hercule Poirot lange und eingehend. Sie besah sich den eiförmigen Kopf, den mächtigen Schnurrbart, die stutzerhafte Kleidung und das verdächtig tiefe Schwarz der Haare. Ein zweifelnder Ausdruck schlich sich in ihre Augen. »Nun, Mademoiselle, sind Sie zufrieden?« Sarah errötete, als sie Poirots amüsiertem ironischen Blick begegnete. »Verzeihen Sie«, sagte sie verlegen. »Du tout! Um ein Wort zu benutzen, das ich erst kürzlich gelernt habe: Sie haben mich beaugapfelt, habe ich Recht?« Sarah lächelte schwach. »Nun, Sie können das Gleiche gern auch bei mir machen«, sagte sie. »Aber gewiss. Ich habe es nicht versäumt, dies bereits zu tun.« Sie sah ihn scharf an. Der Ton, in dem er das sagte, irritierte sie. Doch Poirot zwirbelte nur selbstgefällig seinen Schnurrbart, und Sarah dachte (schon zum zweiten Mal): Der Mann ist ein Schaumschläger! Nachdem ihre Selbstsicherheit wiederhergestellt war, setzte sie sich etwas aufrechter hin und sagte leicht fragend: »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wozu diese Unterredung dienen soll.« »Der gute Dr. Gerard hat es Ihnen nicht erklärt?« Sarah runzelte die Stirn. »Ich begreife Dr. Gerard nicht. Er scheint zu glauben, dass — « »Etwas ist faul im Staate Dänemark«, zitierte Poirot. »Sie sehen, ich kenne Ihren Shakespeare.« Sarah tat Shakespeare mit einer Handbewegung ab. »Wozu soll der ganze Wirbel eigentlich gut sein?«, wollte sie wissen. »»Eh bien, man will dieser Sache doch auf den Grund gehen, habe ich Recht?« »Sprechen Sie von Mrs. Boyntons Tod?« »Ja.« »Ist das nicht ein bisschen viel Tamtam um gar nichts? Gewiss, Sie sind Fachmann auf diesem Gebiet, Monsieur Poirot. Da ist es ganz normal, dass Sie — « »Dass ich ein Verbrechen wittere, wann immer ich einen Vorwand dafür finden kann?« »Nun ja — so ähnlich.« »Sie selbst hegen keine Zweifel, was Mrs. Boyntons Tod betrifft?« Sarah zuckte mit den Schultern. »Monsieur Poirot, wenn Sie in Petra gewesen wären, dann wüssten Sie, dass die Reise dorthin eine ziemliche Strapaze gewesen sein muss für eine alte Frau, deren Herz nicht das beste war.« »Für Sie scheint der Fall also absolut klar zu sein?« »Aber ja! Ich begreife nicht, was Dr. Gerard eigentlich bezweckt. Er war ja nicht einmal dabei. Er lag mit Fieber im Bett. Selbstverständlich würde ich mich jederzeit seiner größeren medizinischen Erfahrung beugen — aber in diesem Fall hat er doch überhaupt nichts in der Hand. Man kann ja in Jerusalem eine Obduktion durchführen lassen, falls man mit meinem Befund nicht zufrieden ist.« Poirot schwieg einen Moment und sagte dann: »Es gibt einen Tatbestand, den Sie noch nicht kennen. Dr. Gerard hat ihn Ihnen gegenüber nicht erwähnt.« »Und der wäre?«, wollte Sarah wissen. »In Dr. Gerards Reiseapotheke fehlt ein gewisses Medikament — Digitoxin.« »Oh!« Sarah erfasste sofort, was dieser neue Aspekt bedeutete. Nicht minder schnell stürzte sie sich auf den einzigen schwachen Punkt. »Ist Dr. Gerard da absolut sicher?« Poirot zuckte mit den Schultern. »Ein Arzt ist, wie Sie wissen werden, Mademoiselle, im Allgemeinen sehr vorsichtig mit seinen Aussagen.« »Ja, natürlich. Das versteht sich von selbst. Aber Dr. Gerard hatte zu der Zeit einen Malariaanfall.« »Das ist natürlich richtig.« »Hat er eine Ahnung, wann das Medikament entwendet worden sein könnte?« »Er hatte Veranlassung, am Abend seiner Ankunft in Petra in seine Reiseapotheke zu sehen. Er brauchte Phenacetin — weil er starke Kopfschmerzen hatte. Er ist sich fast sicher, dass noch alle Medikamente vorhanden waren, als er das Phenacetin am nächsten Morgen wieder in die Tasche legte und diese zumachte.« »Fast sicher«, sagte Sarah. Poirot zuckte mit den Schultern. »Ja, es besteht ein gewisser Zweifel! Der Zweifel, den jeder Mensch, der ehrlich ist, haben würde.« Sarah nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Man wird immer misstrauisch, wenn sich jemand einer Sache allzu sicher ist. Trotzdem, Monsieur Poirot, es ist kein eindeutiger Beweis. Ich habe das Gefühl, dass.« Sie brach ab. Poirot sprach den Satz für sie zu Ende. »Sie haben das Gefühl, dass Ermittlungen meinerseits unklug wären.« Sarah sah ihm fest in die Augen. »Offen gesagt, ja. Sind Sie ganz sicher, Monsieur Poirot, dass es sich hier nicht lediglich um ein Vergnügen zu Lasten anderer handelt?« Poirot lächelte. »Dass das Privatleben einer Familie gestört und behelligt wird, nur damit Hercule Poirot zu seiner Zerstreuung ein wenig Detektiv spielen kann?« »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten — aber ist dieser Gedanke denn so abwegig?« »Sie stehen also auf der Seite der Familie Boynton, Mademoiselle?« »Ja, ich glaube schon. Sie haben alle sehr viel mitgemacht. Sie — sie sollten nicht noch mehr durchmachen müssen.« »Und la maman? Sie war unangenehm, tyrannisch, ekelhaft und darum entschieden besser tot als lebendig, nest-ce pas?« »Wenn Sie es so ausdrücken — « Sarah hielt errötend inne und fuhr dann fort: »Ich gebe zu, dass man dergleichen nicht in Betracht ziehen sollte.« »Aber man tut es trotzdem! Das heißt, Sie tun es, Mademoiselle! Nicht ich — ich tue es nicht! Für mich spielt das keine Rolle. Das Opfer mag ein wahrer Heiliger sein oder aber ein infames Ungeheuer. Es berührt mich nicht. Der Sachverhalt ist der gleiche. Ein Leben wurde genommen! Ich betone es noch einmal: Ich kann Mord nicht billigen.« »Mord?« Sarah zog scharf die Luft ein. »Aber was für Beweise gibt es dafür? Doch nur extrem fadenscheinige! Selbst Dr. Gerard ist sich seiner Sache nicht sicher!« Poirot sagte ruhig: »Es gibt noch andere Indizien, Mademoiselle.« »Und die wären?« Ihre Stimme klang schneidend. »»Der Einstich einer Injektionsnadel am Handgelenk der Toten. Und noch etwas — eine Bemerkung, die ich in Jerusalem mit anhörte, in einer klaren, stillen Nacht, als ich mein Schlafzimmerfenster schließen wollte. Soll ich Ihnen den genauen Wortlaut verraten, Miss King? Nun denn. Ich hörte Mr. Raymond Boynton sagen: >Du siehst doch ein, dass sie sterben muß!<« Er bemerkte, dass alle Farbe aus Sarahs Gesicht wich. Sie sagte: »Das haben Sie gehört?« »Ja.« Die junge Frau starrte wie versteinert vor sich hin. Schließlich sagte sie: »Ausgerechnet Sie mussten das hören!« Poirot nickte. »Ja, ausgerechnet ich. Dergleichen kommt vor. Verstehen Sie jetzt, warum ich meine, dass eine Untersuchung erforderlich ist?« Sarah sagte leise: »Ich glaube, Sie haben Recht.« »Ah! Und werden Sie mir helfen?« »Selbstverständlich.« Es klang sachlich, emotionslos. Sie blickte Poirot kühl in die Augen. Poirot deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Dann möchte ich Sie jetzt bitten, mir in Ihren eigenen Worten exakt alle Ereignisse des bewussten Tages zu schildern, an die Sie sich erinnern.« Sarah dachte kurz nach. »Lassen Sie mich überlegen. Vormittags haben wir einen Ausflug gemacht. Von den Boyntons war keiner dabei. Ich sah sie erst beim Mittagessen. Sie waren gerade fertig, als wir zurückkamen. Mrs. Boynton schien ungewöhnlich gut aufgelegt zu sein.« »Sie war gewöhnlich nicht besonders freundlich, wie ich höre.« »Das können Sie laut sagen!«, bestätigte Sarah und verzog das Gesicht. Dann schilderte sie, wie Mrs. Boynton ihrer Familie für den Nachmittag freigegeben hatte. »Auch das war ungewöhnlich?« »O ja! Normalerweise wollte sie immer alle um sich haben.« »Glauben Sie, dass sie vielleicht plötzlich Gewissensbisse hatte — dass sie hatte, wie sagt man — un bon moment?« »Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, sagte Sarah unverblümt. »Was dachten Sie dann?« »Ich war perplex. Ich hatte den Verdacht, dass es so eine Art Katz-und-Maus-Spiel war.« »Würden Sie das bitte erläutern, Mademoiselle?« »Es macht der Katze Spaß, die gefangene Maus loszulassen und sie dann wieder einzufangen. Mrs. Boynton besaß eine ähnliche Mentalität. Ich dachte, dass sie eine neue Gemeinheit im Schilde führt.« »Und was    geschah    dann, Mademoiselle?« »Die Bonytons machten einen Spaziergang. « »Alle?« »Nein. Die Jüngste, Ginevra, musste im Camp bleiben. Sie sollte sich hinlegen.« »War das auch ihr eigener Wunsch?« »Nein. Aber darauf kam es nicht an. Sie hatte zu gehorchen. Die anderen brachen auf. Dr. Gerard und ich schlossen uns ihnen an.« »Wann war das?« »Gegen halb vier.« »Wo war Mrs. Boynton zu der Zeit?« »Nadine — die junge Mrs. Boynton — hatte es ihr auf einem Stuhl draußen vor ihrer Höhle bequem gemacht.« »Fahren Sie fort.« »Hinter der Biegung holten Dr. Gerard und ich die anderen ein. Wir gingen alle zusammen weiter. Nach einiger Zeit kehrte Dr. Gerard dann um. Er hatte sich offenbar schon eine ganze Weile nicht wohl gefühlt. Ich sah, dass er Fieber hatte. Ich bot an, ihn zu begleiten, aber er wollte nichts davon hören.« »Um wie viel Uhr war das?« »So gegen vier, würde ich sagen.« »Und die anderen?« »Wir gingen weiter.« »Alle zusammen?« »Zuerst ja. Dann trennten wir uns.« Sarah sprach rasch weiter, als ahnte sie die nächste Frage schon. »Nadine Boynton und Mr. Cope gingen in die eine Richtung, und Carol, Lennox, Raymond und ich gingen in eine andere.« »Und so setzten Sie Ihren Weg fort?« »Nun ja — nicht ganz. Raymond Boynton und ich verließen die anderen. Wir setzten uns auf eine Felsplatte und bewunderten die wildromantische Landschaft. Dann ging er zurück, während ich noch einige Zeit blieb. Als ich auf die Uhr schaute, war es kurz vor halb sechs, und mir wurde klar, dass ich mich auf den Heimweg machen musste. Ich kam gegen sechs im Camp an. Die Sonne ging gerade unter.« »Kamen Sie unterwegs an Mrs. Boynton vorbei?« »Ich sah nur, dass sie noch immer droben auf ihrem Stuhl saß.« »Und das kam Ihnen nicht merkwürdig vor — dass sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte?« »Nein, weil ich sie schon am Vorabend bei unserer Ankunft dort hatte sitzen sehen.« »Ich verstehe. Continuez.« »Ich ging ins Gemeinschaftszelt. Außer Dr. Gerard waren schon alle da. Ich machte mich frisch und kam dann zurück ins Gemeinschaftszelt. Das Abendessen wurde aufgetragen, und einer der Diener ging los, um Mrs. Boynton zu holen. Er kam zurückgerannt und sagte, dass sie krank sei. Ich ging sofort zu ihr. Sie saß noch genau so auf ihrem Stuhl wie vorher, aber als ich sie anfasste, merkte ich, dass sie tot war.« »Für Sie bestand kein Zweifel, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war?« »Nicht der geringste. Ich hatte gehört, dass sie ein Herzleiden hatte, aber genau welches war mir nicht bekannt.« »Sie dachten lediglich, sie sei in ihrem Stuhl sitzend gestorben?« »Ja.« »Ohne um Hilfe zu rufen?« »Ja. Das ist nichts Außergewöhnliches. Sie konnte ohne weiteres im Schlaf gestorben sein. Es ist durchaus denkbar, dass sie eingenickt war. Außerdem schliefen alle im Camp sowieso fast den ganzen Nachmittag. Niemand hätte sie gehört, es sei denn, sie hätte sehr laut gerufen.« »Konnten Sie feststellen, wie lange sie schon tot war?« »Nun, darüber habe ich nicht weiter nachgedacht. Sie war auf jeden Fall schon einige Zeit tot.« »Was verstehen Sie unter >schon einige ZeitSoll ich den nächsten Zug nehmen und zu ihr fahren?<, dachte ich. Es ging um eine Großtante von mir, die plötzlich erkrankt war. >Oder soll ich nicht fahren?< Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, weder so noch so, und dann blickte ich nach unten und merkte, dass ich statt des Telegramms eine Pfundnote -eine Pfundnote! - in winzige Stücke riss!« Miss Pierce hielt dramatisch inne. Lady Westholme, die es nicht billigen konnte, dass ihr Trabant plötzlich ins Rampenlicht drängte, sagte frostig: »Haben Sie noch weitere Fragen, Monsieur Poirot?« Poirot, der in Gedanken versunken gewesen war, kam mit einem Ruck zu sich. »Nein — nein, keine. Sie waren sehr präzise — sehr exakt.« »Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, stellte Lady Westholme mit Befriedigung fest. »Eine letzte kleine Bitte noch, Lady Westholme«, sagte Poirot. »Bitte bleiben Sie so, wie Sie jetzt sitzen, und drehen Sie sich nicht um. Wären Sie wohl so freundlich, mir zu beschreiben, was Miss Pierce heute trägt — natürlich nur, wenn Miss Pierce nichts dagegen einzuwenden hat?« »O nein! Ganz und gar nicht!«, zwitscherte Miss Pierce. »Also wirklich, Monsieur Poirot! Und was ist der Zweck dieser Übung?« »Bitte tun Sie, um was ich Sie gebeten habe, Madame.« Lady Westholme zuckte mit den Schultern und sagte dann ziemlich unwirsch: »Miss Pierce trägt ein braun und weiß gestreiftes Baumwollkleid und dazu einen sudanesischen Gürtel aus rotem, blauem und beigem Leder. Sie trägt beige Seidenstrümpfe und Spangenschuhe aus braunem Glanzleder. Im linken Strumpf hat sie eine Laufmasche. Sie trägt eine Halskette aus Karneolen und eine aus leuchtend königsblauen Glasperlen — und eine Brosche mit einem Schmetterling aus Perlen darauf. Am Ringfinger der rechten Hand trägt sie einen Ring mit einer Skarabäus-Imitation. Auf dem Kopf hat sie einen breitkrempigen Sonnenhut aus rosa und braunem Filz.« Sie hielt inne — wie um ihre Kompetenz zu unterstreichen. »Noch weitere Fragen?«, erkundigte sie sich kühl. Poirot breitete viel sagend die Hände aus. »Sie haben meine volle Bewunderung, Madame. Ihre Beobachtungsgabe ist unübertrefflich. « »Mir entgeht selten etwas.« Lady Westholme erhob sich, nickte andeutungsweise und verließ das Zimmer. Als Miss Pierce, mit einem verlegenen Blick auf ihr linkes Bein, ihr folgen wollte, sagte Poirot: »Einen kleinen Moment bitte, Mademoiselle.« »Ja?« Miss Pierce blickte mit leicht besorgter Miene auf. Poirot beugte sich vertraulich vor. »Sehen Sie den Blumenstrauß dort auf dem Tisch?« »Ja«, sagte Miss Pierce erstaunt. »Und haben Sie bemerkt, nachdem Sie ins Zimmer kamen, dass ich ein- oder zweimal niesen musste?« »Ja?« »Bemerkten Sie, ob ich kurz davor an den Blumen gerochen hatte?« »Tja — also — nein — das weiß ich wirklich nicht.« »Aber Sie erinnern sich, dass ich niesen musste?« »O ja, daran erinnere ich mich!« »Nun, egal, es ist nicht weiter wichtig. Ich habe mich nur gefragt, ob diese Blumen vielleicht Heuschnupfen verursachen. Egal!« »Heuschnupfen?«, rief Miss Pierce. »Ich entsinne mich, dass eine Cousine von mir wahnsinnig darunter zu leiden hatte! Sie sagte immer, wenn man sich täglich Boraxlösung in die Nase sprüht, dann — « Nur mit Mühe gelang es Poirot, weitere Ausführungen bezüglich der Behandlung des Heuschnupfens besagter Cousine zu unterbinden und Miss Pierce loszuwerden. Er machte die Tür hinter ihr zu und kehrte mit gerunzelter Stirn ins Zimmer zurück. »Aber ich habe überhaupt nicht geniest«, murmelte er. »So viel zu diesem Thema. Nein, ich habe nicht geniest.« Sechstes Kapitel Lennox Boynton kam mit schnellen, resoluten Schritten ins Zimmer. Wäre Dr. Gerard anwesend gewesen, so hätte er gestaunt, welche Veränderung in dem Mann vorgegangen war. Die Apathie war verschwunden. Sein Auftreten wirkte sicher — obwohl er ganz offenkundig nervös war. Seine Augen waren ständig in Bewegung, schweiften unruhig im Zimmer herum. »Guten Morgen, Mr. Boynton.«, Poirot erhob sich und machte eine förmliche Verbeugung, die Lennox etwas steif erwiderte. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir diese Unterredung gewähren.« Lennox Boynton sagte ziemlich verunsichert:    »Äh — Colonel Carbury meinte, dass es sinnvoll wäre — empfahl mir — irgendwelche Formalitäten, wie er sagte.« »Bitte nehmen Sie Platz, Monsieur Boynton.« Lennox setzte sich auf den Stuhl, auf dem noch vor kurzem Lady Westholme gesessen hatte. Poirot fuhr im Plauderton fort: »Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, nest-ce pas?« »Ja, natürlich. Nun, nein, vielleicht doch nicht... Wir wussten ja, dass Mutter ein schwaches Herz hatte.« »War es unter diesen Umständen klug, ihr zu erlauben, eine so strapaziöse Reise auf sich zu nehmen?« Lennox Boynton blickte auf. Seine Antwort entbehrte nicht einer gewissen melancholischen Würde. »Meine Mutter, Monsieur — äh — Poirot, traf ihre eigenen Entscheidungen. Wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte, war es zwecklos, sie davon abbringen zu wollen.« Bei den letzten Worten zog er scharf die Luft ein. Sein Gesicht wurde plötzlich sehr blass. »Ich weiß sehr wohl«, räumte Poirot ein, »dass ältere Damen gelegentlich höchst eigensinnig sind.« Lennox sagte gereizt: »Was soll das Ganze eigentlich? Das möchte ich jetzt wirklich wissen! Wieso gibt es da auf einmal irgendwelche Formalitäten?« »Es ist Ihnen vielleicht nicht bekannt, Mr. Boynton, aber in Fällen eines plötzlichen und ungeklärten Todes sind zwangsläufig gewisse Formalitäten zu beachten.« Lennox sagte scharf: »Was meinen Sie mit >ungeklärtdas Boynton’sche Problem< nennen möchte, als einen Fall von fehlgeleiteter Fürsorge zu betrachten. Von dem unterschwelligen Hass, der Auflehnung, der Unterdrückung und dem seelischen Schmerz hatte er so gut wie keine Ahnung.« »Das ist stupid, so etwas«, bemerkte Poirot. »Gleichviel«, fuhr Dr. Gerard fort, »selbst der absichtlich begriffsstutzigste sentimentale Optimist kann nicht vollkommen blind sein. Ich glaube, dass Mr. Jefferson Cope auf der Reise nach Petra die Augen geöffnet wurden.« Und er schilderte die Unterhaltung, die er am Morgen des Tages, an dem Mrs. Boynton starb, mit dem Amerikaner gehabt hatte. »Eine interessante Geschichte, diese Sache mit dem Dienstmädchen«, sagte Poirot nachdenklich. »Sie wirft Licht auf die Methoden der alten Frau.« Gerard sagte: »Das war überhaupt ein sehr denkwürdiger Morgen! Sie waren noch nie in Petra, Monsieur Poirot. Wenn Sie hinfahren, müssen Sie unbedingt zur Opferstätte hinaufsteigen. Sie hat eine — wie soll ich sagen — eine besondere Atmosphäre!« Er beschrieb detailliert, was sie dort erlebt hatten, und fügte ergänzend hinzu: »Mademoiselle saß wie eine junge Richterin dort oben und sprach davon, einen zu opfern, um viele zu retten. Erinnern Sie sich, Miss King?« Sarah erschauerte. »Hören Sie bloß auf! Ich will nichts mehr von dem Tag hören.« »Gewiss, gewiss«, sagte Poirot. »Sprechen wir lieber über Ereignisse, die weiter zurückliegen. Mich, Dr. Gerard, interessiert Ihre Beschreibung der Mentalität von Mrs. Boynton. Sehen Sie, ich verstehe nicht recht, warum diese Frau, die ihre Familie vollkommen unterjocht hat, warum sie diese Auslandsreise unternimmt, wo die Gefahr besteht, dass es zu Kontakten mit Außenstehenden kommt und dass ihre Autorität geschwächt wird.« Dr. Gerard beugte sich aufgeregt vor. »Aber genau das ist der springende Punkt, mon vieux! Alte Damen sind überall auf der Welt gleich. Sie fangen an, sich zu langweilen! Wenn sie gerne Patiencen legen, haben sie irgendwann die Patience satt, die sie zu gut kennen. Sie wollen eine neue Patience lernen. Und genau so ist es bei einer alten Dame, deren Zeitvertreib — so unglaublich das klingen mag — es ist, andere Menschen zu beherrschen und zu quälen! Mrs. Boynton war gewissermaßen une dompteuse — sie hatte ihre Tiger gezähmt. Vielleicht war es noch ein wenig aufregend, als die Kinder heranwuchsen. Lennox’ Heirat mit Nadine war ein Abenteuer. Aber dann war plötzlich alles schal. Lennox ist so in Melancholie versunken, dass es praktisch unmöglich ist, ihn zu verletzen oder zu peinigen. Raymond und Carol lassen keinerlei Anzeichen von Rebellion erkennen. Ginevra — ah, la pauvre Ginevra —, sie bietet, aus der Sicht ihrer Mutter, am allerwenigsten Zerstreuung. Denn Ginevra hat einen Ausweg gefunden! Sie flüchtet aus der Realität in eine Traumwelt. Je mehr ihre Mutter sie reizt, desto leichter fällt es ihr, sich das prickelnde Gefühl zu verschaffen, eine verfolgte Heldin zu sein! Aus Mrs. Boyntons Sicht ist das alles sterbenslangweilig. Sie muss daher, genau wie Alexander, neue Welten erobern. Und so plant sie eine Reise ins Ausland. Weil dort die Gefahr besteht, dass ihre gezähmten Bestien rebellieren, weil es dort Gelegenheiten geben wird, ihnen ganz neue Qualen zuzufügen! Es klingt absurd, ich weiß, aber so war es! Sie wollte einen neuen Nervenkitzel ! « Poirot holte tief Luft. »Ein perfekter Plan. Ja, ich verstehe genau, was Sie meinen. So war es. Es passt alles zusammen. Sie wollte gefährlich leben, la maman Boynton — und sie bezahlte den Preis dafür!« Sarah beugte sich vor. Ihr blasses, intelligentes Gesicht war sehr ernst geworden. »Wollen Sie damit sagen, dass sie ihre Opfer zu weit trieb und — und dass diese sich gegen sie wandten — oder jedenfalls einer von ihnen?« Poirot nickte zustimmend. Mit leicht atemloser Stimme sagte Sarah: »Welcher von ihnen?« Poirot sah sie an, blickte auf ihre Hände, die krampfhaft die wild wachsenden Blumen umklammerten, in das blasse und starre Gesicht. Er antwortete nicht sofort — und blieb vor einer Antwort bewahrt, da genau in diesem Moment Dr. Gerard seine Schulter berührte und sagte: »Sehen Sie, da.« Ein junges Mädchen kam den Hügel herauf. Sie bewegte sich mit einer seltsamen rhythmischen Anmut, die den Betrachter an etwas Unwirkliches denken ließ. Ihr rotblondes Haar leuchtete im Sonnenschein, und um ihren schönen Mund spielte ein eigenartiges, geheimnisvolles Lächeln. Poirot hielt den Atem an. »Wie schön sie ist«, sagte er. »Wie wunderschön und anrührend. So müsste man die Ophelia spielen — wie eine junge Göttin, die sich in eine andere Welt verirrt hat, glücklich, den Fesseln menschlicher Freuden und Leiden entronnen zu sein.« »Ja. Ja, Sie haben Recht«, sagte Gerard. »Ein Gesicht, von dem man träumt, nicht wahr? Bei mir war dies tatsächlich der Fall. In meinen Fieberträumen öffnete ich die Augen und sah dieses Gesicht — dieses süße, überirdische Lächeln. Es war ein schöner Traum. Ich bedauerte es, dass ich aufwachte.« Dann sagte er in seinem üblichen Ton: »Das ist Ginevra Boynton.« Zwölftes Kapitel Kurz darauf hatte das junge Mädchen sie erreicht. Dr. Gerard übernahm die Vorstellung. »Miss Boynton, das ist Monsieur Hercule Poirot.« »Oh.« Sie sah ihn unsicher an. Ihre Finger verflochten sich, bewegten sich rastlos. Die verzauberte Nymphe war aus ihrer Zauberwelt zurückgekehrt. Sie war nur noch ein ganz normales, linkisches junges Mädchen, ein wenig nervös und befangen. Poirot sagte: »Was für ein glücklicher Zufall, Sie hier zu treffen, Mademoiselle. Ich wollte Sie bereits im Hotel aufsuchen.« »Wirklich?« Ihr Lächeln war leer. Ihre Finger begannen am Gürtel ihres Kleides herumzuzupfen. Poirot sagte freundlich: »Würden Sie einige Schritte mit mir gehen?« Sie folgte ihm gehorsam, fügte sich seiner Laune. Bald darauf sagte sie, ziemlich unvermittelt, mit sonderbarer, hastiger Stimme:    »Sie sind — Sie sind doch Privatdetektiv, oder?« »Ja, Mademoiselle.« »Ein berühmter Privatdetektiv?« »Der beste Privatdetektiv auf der Welt«, sagte Poirot im Brustton der Überzeugung, die reine Wahrheit zu konstatieren, nicht mehr und nicht weniger. »Sie sind hergekommen, um mich zu beschützen?«, hauchte Ginevra Boynton. Poirot strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Dann sagte er: »Sind Sie denn in Gefahr, Mademoiselle?« »Ja! Aber ja!« Sie blickte sich rasch und argwöhnisch um. »Ich habe es Dr. Gerard schon in Jerusalem gesagt. Er war sehr geschickt. Er ließ sich nichts anmerken. Aber er folgte mir — an diesen schrecklichen Ort mit den roten Felsen.« Sie erschauerte. »Sie wollten mich dort töten. Ich muss ständig auf der Hut sein.« Poirot nickte freundlich und nachsichtig. Ginevra Boynton sagte: »Er ist sehr nett — und gütig. Er ist in mich verliebt!« »Ja?« »O ja! Er sagt im Schlaf meinen Namen.« Ihre Stimme wurde weich, und auf ihrem Gesicht lag wieder dieser Ausdruck bebender, überirdischer Schönheit. »Ich sah ihn — wie er dort lag, sich hin und her warf — und meinen Namen sagte. Ich bin leise wieder weggeschlichen.« Sie hielt inne. »Ich dachte, dass vielleicht er nach Ihnen geschickt hat? Ich habe nämlich furchtbar viele Feinde. Sie sind überall. Manchmal sind sie sogar verkleidet.« »Ja, ja«, sagte Poirot freundlich. »Aber hier sind Sie sicher — Ihre ganze Familie ist bei Ihnen.« Sie richtete sich stolz auf. »Das ist nicht meine Familie! Ich habe mit diesen Leuten nichts zu schaffen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer ich wirklich bin — das ist ein großes Geheimnis. Aber Sie würden staunen, wenn Sie es wüssten.« Poirot sagte sanft: »War der Tod Ihrer Mutter ein großer Schock für Sie, Mademoiselle?« Ginevra stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe es Ihnen doch gesagt — sie war nicht meine Mutter! Meine Feinde haben sie bezahlt, damit sie so tat und aufpasste, dass ich nicht davonlief!« »Wo waren Sie an dem Nachmittag, als sie starb?« »Ich war im Zelt. Es war dort sehr heiß, aber ich wagte nicht, es zu verlassen. Sonst hätten sie mich vielleicht erwischt.« Ein Schauer überlief sie. »Einer von ihnen — hat in mein Zelt geschaut. Er war verkleidet, aber ich erkannte ihn. Ich stellte mich schlafend. Der Scheich hatte ihn geschickt. Der Scheich wollte mich natürlich entführen lassen.« Poirot schwieg eine Weile, während sie weitergingen, und sagte dann: »Sie sind sehr hübsch, diese Geschichten, die Sie sich erzählen.« Ginevra Boynton blieb stehen. Sie funkelte Poirot an. »Sie sind wahr. Sie sind alle wahr!« Wieder stampfte sie zornig mit dem Fuß auf. »Ja«, sagte Poirot, »sie sind zweifellos gut erfunden.« »Aber sie sind wahr — wahr!«, rief sie aus. Dann machte sie wütend kehrt und rannte den Hügel hinunter. Poirot sah ihr nach. Nach ein bis zwei Minuten hörte er dicht hinter sich eine Stimme fragen: »Was haben Sie zu ihr gesagt?« Poirot drehte sich zu Dr. Gerard um, der leicht außer Atem stehen geblieben war. Weiter hinten kam Sarah, aber in gemächlicherem Tempo. Poirot beantwortete Gerards Frage: »Ich sagte zu ihr, dass sie sich ein paar hübsche Geschichten ausgedacht hat.« Der Arzt nickte nachdenklich. »Und darüber war sie wütend? Das ist ein gutes Zeichen. Denn das beweist, dass sie noch nicht ganz über die Schwelle getreten ist. Sie weiß noch, dass es nicht die Wahrheit ist! Ich werde sie heilen.« »Ah, Sie denken an eine Behandlung?« »Ja. Ich habe die Sache mit der jungen Mrs. Boynton und ihrem Mann besprochen. Ginevra wird nach Paris kommen und sich in eine meiner Kliniken begeben. Danach wird sie sich für die Bühne ausbilden lassen.« »Die Bühne?« »Ja, als Schauspielerin könnte sie großen Erfolg haben. Und das ist genau das, was sie braucht — was sie haben muss! Sie besitzt viele wesentliche Charakterzüge ihrer Mutter.« »Nein!«, rief Sarah entsetzt. »Ihnen erscheint das unmöglich, aber bestimmte grundlegende Wesensmerkmale sind die gleichen. Beide besitzen von Natur aus ein starkes Geltungsbedürfnis; beide wollen mit ihrer Persönlichkeit beeindrucken! Das arme Kind wurde auf Schritt und Tritt eingeengt und unterdrückt; man gab ihr keine Möglichkeit, ihren ehrgeizigen Ambitionen nachzugehen, ihre Lebensfreude zu zeigen, ihre    lebhafte    schwärmerische Persönlichkeit auszudrücken.« Er lachte auf. »Nous allons changer tout ça!« Dann machte er eine kleine Verbeugung und sagte:    »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?«, und eilte dem jungen Mädchen den Hügel hinunter nach. Sarah sagte: »Dr. Gerard ist mit Leib und Seele Arzt.« »Das habe ich bemerkt«, sagte Poirot. »Trotzdem«, sagte sie stirnrunzelnd, »finde ich es unerträglich, dass er sie mit dieser grässlichen alten Frau vergleicht — obwohl ich ja selbst einmal Mitleid mit Mrs. Boynton hatte.« »Wann war das, Mademoiselle?« »Damals in Jerusalem. Ich habe Ihnen davon erzählt. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als ob ich alles missverstanden hätte. Kennen Sie dieses Gefühl, das einen manchmal überkommt, wenn man einen Moment lang alles aus einem anderen Blickwinkel sieht? Ich war richtig in Fahrt, bin zu ihr gegangen und habe mich total zum Narren gemacht!« »O nein — das können Sie gar nicht!« Wie immer, wenn sie an die Szene mit Mrs. Boynton denken musste, wurde Sarah puterrot. »Ich fühlte mich richtiggehend erhaben, als ob ich eine Mission zu erfüllen hätte! Und als mich Lady Westholme dann später leicht schief ansah und sagte, sie hätte mich mit Mrs. Boynton sprechen sehen, dachte ich, dass sie vielleicht alles mit angehört hatte, und kam mir endgültig wie ein kompletter Idiot vor.« Poirot fragte: »Was genau hat die alte Mrs. Boynton zu Ihnen gesagt? Können Sie sich an ihre genauen Worte erinnern?« »Ich glaube schon. Sie haben nämlich einen ziemlichen Eindruck bei mir hinterlassen. >Ich vergesse nichts<, sagte sie. >Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.<« Sarah erschauerte. »Sie sagte es so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehen. Mir ist — mir ist, als könnte ich sie jetzt noch hören.« Poirot sagte freundlich: »Und das hat einen solchen Eindruck auf Sie gemacht?« »Ja. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen — aber manchmal träume ich von ihr, wie sie genau diese Worte sagt, und sehe ihr böses, hämisches, triumphierendes Gesicht. Grässlich!« Ein Schauer überlief sie. Dann sagte sie plötzlich geradeheraus: »Monsieur Poirot, vielleicht sollte ich Sie das nicht fragen, aber sind Sie in dieser Angelegenheit zu einem Schluss gekommen? Haben Sie etwas Entscheidendes herausgefunden?« »Ja.« Er sah, wie ihre Lippen zitterten, als sie fragte: »Was?« »Ich habe herausgefunden, mit wem Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Er sprach mit seiner Schwester Carol.« »Mit Carol — natürlich!« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Haben Sie ihm gesagt — haben Sie ihn gefragt — « Es war zwecklos. Sie konnte nicht weitersprechen. Poirot sah sie ernst und mitfühlend an. Dann sagte er ruhig: »Ist das — so wichtig für Sie, Mademoiselle?« »Wichtiger als alles!«, sagte Sarah. Sie straffte die Schultern. »Ich muss es einfach wissen.« Poirot sagte ruhig: »Er versicherte mir, dass es ein hysterischer Ausbruch war — mehr nicht! Dass er und seine Schwester sehr aufgewühlt waren. Er sagte mir, dass die Idee, bei Tageslicht besehen, beiden phantastisch erschien.« »Ich verstehe.« Poirot sagte sanft: »Miss Sarah, wollen Sie mir nicht sagen, wovor Sie Angst haben?« Sarah wandte ihm ihr blasses, verzweifeltes Gesicht zu. »An dem Nachmittag — waren wir zusammen. Und als er ging, sagte er — dass er etwas unternehmen werde — jetzt gleich, solange er noch den Mut dazu habe. Ich dachte, dass er nur — dass er es ihr nur sagen wollte. Aber angenommen, er wollte.« Ihre Stimme erstarb. Sie stand wie erstarrt da und rang nach Fassung. Dreizehntes Kapitel Nadine Boynton trat aus dem Hotel. Als sie unsicher zögerte, eilte ein wartender Mann herbei. Mr. Jefferson Cope war unverzüglich an der Seite seiner Herzensdame. »Wollen wir diesen Weg nehmen? Ich glaube, es ist der angenehmste.« Nadine willigte stumm ein. So gingen sie dahin, und Mr. Cope redete. Die Worte kamen leicht, wenn auch etwas monoton über seine Lippen. Es steht nicht fest, ob er bemerkte, dass Nadine nicht zuhörte. Als sie auf den steinigen, mit Blumen bewachsenen Hügel abbogen, unterbrach sie ihn. »Entschuldige, Jefferson. Ich muss mit dir reden.« Ihr Gesicht war blass geworden. »Gewiss, natürlich, Liebes. Ganz, wie du willst, aber bitte quäle dich nicht.« Sie sagte: »Du bist viel klüger, als ich dachte. Du weißt bereits, was ich dir sagen will, nicht wahr?« »Es ist nun einmal eine Tatsache«, sagte Mr. Cope, »dass gewisse Dinge alles verändern. Mir ist vollkommen klar, dass unter den gegenwärtigen Umständen bestimmte Entscheidungen noch einmal überdacht werden müssen.« Er seufzte. »Du musst tun, was du für richtig hältst, Nadine, und was dir dein Gefühl befiehlt.« Ehrlich bewegt sagte sie: »Du bist so gut, Jefferson. So geduldig! Und ich habe dich so schlecht behandelt. Ich war richtiggehend gemein zu dir.« »Jetzt hör mal zu, Nadine. Lass uns eines klarstellen. Ich habe immer gewusst, wo meine Grenzen liegen, was dich betrifft. Ich liebe dich und schätze dich, seit ich dich kenne. Ich will nur, dass du glücklich bist. Mehr habe ich nie gewollt. Mit ansehen zu müssen, dass du unglücklich bist, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Und ich sage ganz offen, dass ich Lennox die Schuld daran gegeben habe. Ich hatte das Gefühl, dass er es nicht verdiente, dich zu behalten, wenn ihm dein Glück nicht ein klein wenig mehr bedeutete, als dies der Fall zu sein schien.« Mr. Cope holte tief Luft und fuhr fort: »Aber ich gebe zu, dass ich, nachdem ich euch nach Petra begleitet hatte, den Eindruck gewann, dass es vielleicht doch nicht nur Lennox’ Schuld war, wie ich gedacht hatte. Er war nicht eigennützig, was dich betraf, sondern eher viel zu uneigennützig, was seine Mutter anging. Ich will über Tote ja nichts Schlechtes sagen, aber ich glaube, dass deine Schwiegermutter eine ungewöhnlich schwierige Frau war.« »Ja, das kann man wohl sagen«, murmelte Nadine. »Auf jeden Fall«, fuhr Mr. Cope fort, »bist du gestern zu mir gekommen und hast gesagt, dass du dich endgültig entschieden hättest, Lennox zu verlassen. Ich begrüßte deinen Entschluss. Das war doch kein Leben, was du da führtest. Und du warst ganz ehrlich zu mir. Du hast nicht so getan, als ob du mehr als nur Zuneigung für mich empfindest. Nun, mir genügte das. Alles, was ich wollte, war, für dich sorgen zu dürfen und dir das zu bieten, was du verdient hast. Ich muss zugeben, das war einer der glücklichsten Nachmittage in meinem Leben.« »Es tut mir Leid!«, rief Nadine aus. »Es tut mir so Leid!« »Dazu besteht kein Grund, weil ich schon die ganze Zeit das komische Gefühl hatte, dass alles nur ein Traum war. Ich spürte, dass ich damit rechnen musste, dass du es dir bis zum nächsten Morgen anders überlegt haben könntest. Nun, die Lage hat sich grundlegend geändert. Du und Lennox könnt jetzt euer eigenes Leben führen.« Nadine sagte leise: »Ja. Ich kann Lennox nicht verlassen. Bitte verzeih mir.« »Da gibt es ist nichts zu verzeihen«, erklärte Mr. Cope. »Du und ich werden einfach wieder gute alte Freunde sein und den bewussten Nachmittag vergessen.« Nadine legte sanft die Hand auf seinen Arm. »Danke, lieber Jefferson. Ich muss jetzt zu Lennox.« Sie drehte sich um und ging. Mr. Cope setzte seinen Weg allein fort. Nadine fand Lennox im griechischrömischen Theater. Er saß ganz oben und war so in Gedanken versunken, dass er sie erst richtig bemerkte, als sie sich atemlos neben ihm niederließ. »Lennox.« »Nadine.« Er drehte sich halb zu ihr um. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu reden«, sagte sie. »Aber du weißt, dass ich dich nicht verlassen werde, oder?« Ernst erwiderte er: »Hattest du das denn tatsächlich vor, Nadine?« Sie nickte. »Ja. Ich hatte das Gefühl, dass mir nichts anderes übrig blieb. Ich hoffte, dass — dass du mich zurückhalten würdest. Der arme Jefferson! Ich war ja so gemein zu ihm.« Lennox lachte plötzlich laut auf. »Nein, das ist nicht wahr. Ein Mensch, der so selbstlos ist wie Cope, muss Gelegenheit bekommen, seinem Edelmut freien Lauf zu lassen! Und du hattest Recht, Nadine. Als du mir sagtest, dass du mit ihm fortgehen willst, hast du mir den Schock meines Lebens versetzt! Weißt du, ich glaube allen Ernstes, dass ich in letzter Zeit auf dem besten Wege war, den Verstand zu verlieren. Warum zum Teufel habe ich meiner Mutter nicht ins Gesicht gelacht und bin mit dir fortgegangen, als du mich darum gebeten hast?« »Weil du es nicht konntest, Liebster«, sagte sie sanft. »Weil es unmöglich war.« Lennox sagte sinnend: »Mutter war schon ein verdammt merkwürdiger Mensch. Ich glaube, sie hatte uns alle irgendwie hypnotisiert.« »So ist es.« Lennox sann geraume Zeit nach. Dann sagte er: »Als du es mir an dem Nachmittag sagtest, war ich wie vor den Kopf geschlagen! Ich ging völlig benommen zurück, und dann ging mir plötzlich auf, was ich doch für ein verdammter Idiot gewesen bin! Und mir wurde klar, dass es nur eins gab, wenn ich dich nicht verlieren wollte.« Er spürte, wie sie erstarrte. Seine Stimme wurde härter. »Ich ging hin und — « »Sprich nicht weiter.« Er sah sie rasch an. »Ich ging hin und — debattierte mit ihr.« Er sprach in völlig verändertem Ton — bedächtig und fast ausdruckslos. »Ich sagte ihr, dass ich zwischen ihr und dir wählen musste — und dass ich mich für dich entschieden hatte.« Beide schwiegen. Fast selbstbewusst fügte er hinzu: »Ja, genau das habe ich ihr gesagt.« Vierzehntes Kapitel Auf dem Rückweg begegnete Poirot zwei Personen. Die erste war Mr. Jefferson Cope. »Monsieur Hercule Poirot? Mein Name ist Jefferson Cope.« Die beiden Männer schüttelten sich in aller Form die Hand. Mr. Cope, der sich Poirot anschloss, sagte im Weitergehen: »Ich habe erst jetzt erfahren, dass Sie quasi routinemäßig den Tod meiner alten Freundin Mrs. Boynton untersuchen. Eine böse Geschichte. Die alte Dame hätte nie und nimmer eine so beschwerliche Reise unternehmen dürfen, so viel steht fest. Aber sie war dickköpfig, Monsieur Poirot. Sie ließ sich von niemandem dreinreden. Sie war ein richtiger Haustyrann — hatte vermutlich zu lange immer ihren Willen durchgesetzt. Und was sie sagte, wurde ohne Widerrede gemacht. Ja, Sir, genau so war es.« Mr. Cope schwieg eine Weile. »Monsieur Poirot, ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich ein alter Freund der Familie bin. Klar, dass alle ziemlich durcheinander sind wegen dieser Geschichte und dass sie verständlicherweise nervös und gereizt sind. Wenn also irgendwelche Dinge zu erledigen sind — irgendwelche Formalitäten, Vorkehrungen für die Beisetzung, die Überführung der Leiche nach Jerusalem —, also da würde ich ihnen gerne so viel wie möglich abnehmen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn etwas zu tun ist.« »Ich bin sicher, die Familie wird Ihr Angebot zu schätzen wissen«, sagte Poirot und fügte dann hinzu: »Soviel ich weiß, sind Sie ein besonderer Freund der jungen Mrs. Boynton.« Mr. Jefferson Cope errötete ein klein wenig. »Na ja, dazu gibt es nicht viel zu sagen, Monsieur Poirot. Wie ich höre, hatten Sie heute Vormittag eine Unterredung mit Mrs. Lennox Boynton, und sie hat Ihnen gegenüber bestimmt angedeutet, wie die Dinge zwischen uns stehen, aber das ist jetzt alles vorbei. Mrs. Boynton ist eine sehr feine Frau, und sie meint, dass es ihre vordringliche Pflicht ist, ihrem Mann angesichts dieses schmerzlichen Verlustes beizustehen.« Er schwieg. Poirot quittierte seine Worte mit einem leichten Neigen des Kopfes und sagte dann: »Es ist der Wunsch von Colonel Carbury, einen exakten Bericht über den Nachmittag von Mrs. Boyntons Tod zu erhalten. Können Sie mir den Verlauf des bewussten Nachmittags schildern?« »Aber gern! Nach dem Lunch und einer kurzen Ruhepause brachen wir zu einer zwanglosen Erkundungstour auf. Und zwar ohne diesen unmöglichen Dragoman. Der Mann dreht völlig durch, wenn er auf das Thema Juden kommt. In dieser Hinsicht ist er meiner Meinung nach nicht zurechnungsfähig. Wie gesagt, wir brachen auf. Und auf diesem Spaziergang kam es zu der Unterredung mit Nadine. Danach wollte sie mit ihrem Mann allein sein, um die Sache mit ihm zu besprechen. Ich ging allein weiter, arbeitete mich in einem Bogen zum Camp zurück. Etwa auf halbem Wege traf ich auf die beiden englischen Ladys, die am Vormittag mit uns auf der Exkursion gewesen waren — eine von ihnen ist, glaube ich, eine englische Adelige, stimmt’s?« Poirot sagte, dass dies der Fall sei. »Ja, eine feine Frau, mit scharfem Verstand und sehr gebildet. Die andere schien mir ein bisschen schwach auf der Brust zu sein — sie war halb tot vor Erschöpfung. Für eine ältere Dame war die Exkursion am Vormittag sehr anstrengend gewesen, vor allem wenn sie die Höhe nicht verträgt. Na ja, wie gesagt, ich traf also die beiden Damen und konnte ihnen gewisse Auskünfte geben. Wir gingen zusammen ein bisschen herum und kamen gegen sechs ins Camp zurück. Lady Westholme bestand darauf, Tee zu trinken, und ich hatte das Vergnügen, eine Tasse mittrinken zu dürfen — der Tee war ziemlich dünn, schmeckte aber ganz interessant. Dann deckten die Boys den Tisch fürs Abendessen, und einer sollte die alte Dame holen, die aber, wie er feststellte, tot in ihrem Stuhl saß.« »Sahen Sie sie auf dem Rückweg ins Camp?« »Ich sah, dass sie dort saß — nachmittags und abends war das ihr üblicher Platz, aber ich schenkte ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Ich erläuterte Lady Westholme nämlich gerade die Gründe unseres Konjunkturrückgangs. Außerdem musste ich ein Auge auf Miss Pierce haben. Sie war so müde, dass sie ständig mit dem Fuß umknickte.« »Vielen Dank, Mr. Cope. Darf ich so indiskret sein und fragen, ob Mrs. Boynton möglicherweise ein großes Vermögen hinterlassen hat?« »Ein ganz beträchtliches sogar. Das heißt, genau genommen ist es gar nicht ihres. Sie hatte nur das Nutzungsrecht auf Lebenszeit, und nach ihrem Tod wird es unter den Kindern des verstorbenen Eimer Boynton aufgeteilt. Ja, sie werden jetzt alle ziemlich wohlhabend sein.« »Geld«, murmelte Poirot, »spielt immer eine große Rolle. Wie viele Verbrechen wurden schon wegen Geld begangen.« Mr. Cope sah ihn leicht bestürzt an. »Da mögen Sie wohl Recht haben«, gab er zu. Poirot lächelte liebenswürdig und sagte: »Aber es gibt so viele Motive für einen Mord, nicht wahr? Ich danke Ihnen, Mr. Cope, für Ihre freundliche Kooperation.« »Gern geschehen, keine Frage«, sagte Mr. Cope. »Ist das Miss King, die dort oben sitzt? Ich glaube, ich werde mal zu ihr gehen und mich ein bisschen mit ihr unterhalten. « Poirot setzte seinen Weg den Hügel hinunter fort. Nach einer Weile begegnete er Miss Pierce, die ihm entgegengeflattert kam und ihn atemlos begrüßte:    »Oh,    Monsieur Poirot, ich bin ja so froh, Sie zu treffen. Ich habe mich mit diesem höchst sonderbaren jungen Mädchen unterhalten — der jüngsten Tochter, wissen Sie. Sie hat ja so merkwürdige Sachen gesagt — von Feinden und von einem Scheich, der sie entführen will, und dass sie überall von Spionen umgeben ist. Wirklich, es klang höchst romantisch! Lady Westholme sagt, dass das alles Unsinn ist und dass sie einmal ein rothaariges Küchenmädchen hatte, das auch solche Lügen erzählte, aber manchmal denke ich, dass Lady Westholme doch ein wenig zu streng ist. Und es könnte doch ohne weiteres wahr sein, nicht wahr, Monsieur Poirot? Vor Jahren las ich, dass eine der Zarentöchter gar nicht in der Revolution in Russland umkam, sondern heimlich nach Amerika flüchten konnte. Die Großfürstin Tatjana, wenn ich mich nicht irre. Wenn das stimmt, dann könnte das junge Mädchen doch ihre Tochter sein, nicht wahr? Sie hat in der Tat etwas von königlichem Blut angedeutet — und sie hat ja auch etwas Slawisches, finden Sie nicht? Besonders die Wangenknochen. Wäre das nicht furchtbar aufregend?« Poirot sagte leicht salbungsvoll: »Es gibt wahrlich viele seltsame Dinge im Leben.« »Ich habe heute Vormittag gar nicht richtig mitbekommen, wer Sie sind«, sagte Miss Pierce und presste die Hände zusammen. »Dabei sind Sie doch dieser ungemein berühmte Privatdetektiv! Ich habe alles über den ABC-Fall gelesen. War das aufregend! Ich hatte damals nämlich eine Stelle als Gouvernante in der Nähe von Doncaster.« Poirot murmelte etwas. Miss Pierce fuhr mit wachsender Erregung fort: »Und darum hatte ich das Gefühl — dass ich mich geirrt hatte — heute Vormittag. Man muss doch immer alles sagen, nicht wahr? Selbst die kleinste Kleinigkeit, und mag sie einem auch noch so unwichtig erscheinen. Denn wenn Sie sich mit dieser Sache befassen, dann muss die arme Mrs. Boynton ermordet worden sein! Das ist mir jetzt klar! Es wäre doch möglich, dass Mr. Mah Mut — ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken —, also der Dragoman —, ich meine, er könnte doch ein bolschewistischer Agent sein? Oder Miss King vielleicht? Ich glaube, dass heutzutage viele wohlerzogene junge Mädchen aus gutem Hause zu diesen schrecklichen Kommunisten gehören! Und darum habe ich mich gefragt, ob ich es Ihnen nicht vielleicht doch sagen sollte — denn, wissen Sie, es war schon ziemlich merkwürdig, wenn man es richtig bedenkt.« »Ganz recht«, sagte Poirot. »Und darum werden Sie mir jetzt alles erzählen.« »Nun, eigentlich ist es ja nichts weiter. Nur dass ich am Morgen nach der Entdeckung des tragischen Ereignisses ziemlich früh auf den Beinen war und aus meinem Zelt schaute, um den Sonnenaufgang zu sehen — nur dass es natürlich gar nicht Sonnenaufgang war, weil die Sonne bestimmt schon eine Stunde früher aufgegangen war. Jedenfalls war es noch sehr früh und — « »Ja, ja. Und was sahen Sie da?« »Das ist ja das Komische — obwohl es mir damals nichts Besonderes zu sein schien. Es war nur so, dass ich sah, wie die Boynton-Tochter aus ihrem Zelt kam und etwas in das Wadi warf — da ist zwar weiter nichts dabei, aber es glitzerte in der Sonne! Als es durch die Luft flog. Es glitzerte, wissen Sie?« »Welche Boynton-Tochter war das?« »Ich glaube, es war die, die Carol heißt — ein hübsches junges Ding — hat große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder — die beiden könnten Zwillinge sein. Aber es könnte natürlich auch die Jüngste gewesen sein. Die Sonne schien mir in die Augen, und da konnte ich sie nicht genau sehen. Allerdings glaube ich nicht, dass das Haar rot war — eher bronzefarben. Ich finde diesen bronzenen Kupferton ja so attraktiv! Bei roten Haaren muss ich nämlich immer an Karotten denken!« Sie kicherte. »Und sie warf einen glitzernden Gegenstand weg?«, sagte Poirot. »Ja. Und wie ich bereits sagte, habe ich mir damals natürlich nichts weiter dabei gedacht. Aber als ich später am Wadi entlangging, war Miss King dort. Und zwischen all den Dingen, die da nun wirklich nicht hingehörten — sogar Blechbüchsen lagen da! —, sah ich etwas aus Metall schimmern — eine Art Dose, nicht direkt quadratisch, eher länglich oder so, wenn Sie verstehen, was ich meine — « »Ja, ja, ich verstehe vollkommen. Etwa so lang?« »Genau! Was sind Sie doch für ein kluger Mann! Und da dachte ich bei mir: >Die hat wahrscheinlich die kleine Boynton weggeworfen, und dabei ist das so eine hübsche kleine Dose.< Und da habe ich sie aus purer Neugier aufgehoben und geöffnet. Innen lag eine Spritze — mit genau so einer hatten sie mich in den Arm gepiekst, als ich mich gegen Typhus impfen ließ. Komisch, dachte ich noch, so etwas einfach wegzuwerfen, weil sie nämlich gar nicht kaputt zu sein schien. Aber noch während ich darüber nachdachte, sprach mich von hinten Miss King an. Ich hatte sie gar nicht kommen hören. Und sie sagte: >Oh, vielen Dank — die gehört mir. Ich habe sie schon gesucht.< Also gab ich sie ihr, und sie ging damit zurück ins Camp.« Miss Pierce hielt kurz inne und fuhr dann hastig fort: »Bestimmt hat das überhaupt nichts zu besagen — aber ein wenig seltsam fand ich es doch, dass Carol Boynton eine Spritze von Miss King weggeworfen hatte. Ich meine, es war irgendwie merkwürdig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Obwohl es natürlich bestimmt eine sehr gute Erklärung dafür gibt.« Sie hielt inne und sah Poirot erwartungsvoll an. Sein Gesicht war ernst. »Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Was Sie mir mitgeteilt haben, mag, für sich betrachtet, nicht von Belang sein, aber so viel kann ich Ihnen versichern: Damit ist mein Fall komplett! Jetzt ist alles klar und logisch.« »Ach, wirklich?« Miss Pierce errötete vor Freude wie ein kleines Kind. Poirot begleitete sie zurück zum Hotel. Als er wieder in seinem Zimmer war, fügte er seinem Memorandum einen weiteren Punkt hinzu: 10. — »Ich vergesse nichts. Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas...« »»Mais oui«, sagte er. »Jetzt ist alles klar!« Fünfzehntes Kapitel »Meine Vorbereitungen sind komplett«, sagte Hercule Poirot. Mit einem kleinen Seufzer trat er einige Schritte zurück und betrachtete die Vorkehrungen, die er in einem unbewohnten Zimmer des Hotels getroffen hatte. Colonel Carbury, höchst unelegant an das Bett gelehnt, das an die Wand geschoben worden war, paffte lächelnd seine Pfeife. »Sie sind schon ein komischer Kauz, Poirot«, sagte er. »Mögen es gern dramatisch, was?« »Nun, vielleicht ist es so«, räumte der kleine Privatdetektiv ein. »Aber es geschieht gewiss nicht nur zu meiner persönlichen Befriedigung. Wer eine Komödie spielen will, muss zuerst für die richtige Kulisse sorgen.« »Ist das Ganze denn eine Komödie?« »Selbst wenn es eine Tragödie ist — das decor muss stimmen, unbedingt!« Colonel Carbury sah ihn neugierig an. »Na ja«, sagte er, »es ist schließlich Ihre Sache. Ich weiß zwar nicht, worauf Sie hinauswollen, aber mir scheint, dass Sie irgendetwas herausgefunden haben.« »Ich werde die Ehre haben, Ihnen das zu präsentieren, worum Sie mich gebeten haben — die Wahrheit!« »Meinen Sie, dass es für eine Verurteilung reicht?« »Das, mein Freund, habe ich Ihnen nicht versprochen. « »Stimmt. Ist vielleicht auch besser so. Wir werden ja sehen.« »Meine Beweisführung ist hauptsächlich psychologischer Natur«, sagte Poirot. Colonel Carbury seufzte. »Das habe ich befürchtet.« »Aber sie wird Sie überzeugen«, versicherte ihm Poirot. »O ja, sie wird Sie überzeugen. Die Wahrheit, wie ich immer wieder feststelle, ist merkwürdig und wunderbar.« »Manchmal«, sagte Colonel Carbury, »ist sie aber auch verdammt unangenehm.« »Nein, o nein.« Poirot sprach mit großem Ernst. »Sie sehen das aus einem zu persönlichen Blickwinkel. Betrachten Sie die Sache abstrakt, aus der Distanz. Dann ist die absolute Logik der Ereignisse faszinierend und methodisch.« »Ich werd mir Mühe geben«, sagte der Colonel. Poirot warf einen Blick auf seine Taschenuhr, ein richtiges Monstrum von einer Uhr. »Die gehörte einmal meinem Großvater.« »Hab ich mir fast gedacht.« »Es ist Zeit, mit unserer kleinen Vorstellung zu beginnen«, sagte Poirot. »Sie, mon Colonel, werden hier sitzen, hinter dem Tisch, in einer offiziellen Position.« »Na schön«, brummte Carbury. »Soll ich womöglich auch meine Uniform anziehen?« »Nein, nicht nötig. Ich werde lediglich Ihre Krawatte zurechtrücken, wenn Sie gestatten.« Er setzte seine Worte in die Tat um. Colonel Carbury grinste, nahm auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz und hatte schon im nächsten Moment den Krawattenknoten unbewusst wieder unter sein linkes Ohr geschoben. »Hier«, sagte Poirot, während er die Anordnung der Stühle leicht veränderte, »platzieren wir la famille Boynton.« »Und hier«, fuhr er fort, »werden wir die drei Außenstehenden platzieren, die so großen Anteil nehmen an diesem Fall. Dr. Gerard, von dessen Aussage die Anklage abhängt. Miss Sarah King, die zweierlei Interessen an dem Fall hat, ein persönliches und eines als Leichenbeschauer. Und Mr. Jefferson Cope, der mit den Boyntons auf freundschaftlichem Fuße steht und daher zweifellos befangen zu nennen ist.« Er brach ab. »Aha! Sie kommen.« Er machte die Tür auf, um alle hereinzulassen. Lennox Boynton und seine Frau traten als Erste ein. Ihnen folgten Raymond und Carol. Dann kam Ginevra, allein, ein leises, versonnenes Lächeln auf den Lippen. Dr. Gerard und Sarah King bildeten die Nachhut. Mr. Jefferson Cope traf mit einigen Minuten Verspätung ein, wofür er sich entschuldigte. Nachdem auch er Platz genommen hatte, trat Poirot vor. »Mesdames et Messieurs«, sagte er, »dies ist eine rein informelle Zusammenkunft. Sie ergibt sich aufgrund meiner zufälligen Anwesenheit in Amman. Colonel Carbury erwies mir die Ehre, mich zu konsultieren und — « Poirot wurde unterbrochen, und zwar von jemandem, von dem er das offenbar nicht erwartet hatte. Denn Lennox Boynton sagte unvermittelt und streitlustig: »Warum? Warum zum Teufel sollte er ausgerechnet Sie in dieser Sache einschalten?« Poirot machte eine anmutige Handbewegung. »Ich werde oft bei plötzlichen Todesfällen hinzugezogen.« »Die Ärzte schicken also jedes Mal nach Ihnen«, sagte Lennox Boynton, »wenn jemand an Herzversagen stirbt?« Poirot erwiderte freundlich: »Herzversagen ist ein so vager und unwissenschaftlicher Begriff.« Colonel Carbury räusperte sich, was sehr amtlich klang, und sagte in amtlichem Ton: »Ich will mal was klarstellen. Da wird mir ein Todesfall gemeldet. Ganz normaler Vorfall. Außergewöhnlich heißes Wetter, strapaziöse Reise für eine ältere Dame in schlechter körperlicher Verfassung. So weit ist alles klar. Aber dann kommt Dr. Gerard zu mir und macht eine Aussage.« Er warf Poirot einen fragenden Blick zu. Poirot nickte. »Dr. Gerard ist ein hochangesehener Arzt von internationalem Ruf. Einer Aussage von ihm wird zwangsläufig Beachtung geschenkt. Und Dr. Gerard sagt Folgendes aus: Am Morgen nach Mrs. Boyntons Tod bemerkte er, dass in seinem Arztkoffer eine bestimmte Menge eines hochwirksamen Herzmittels fehlte. Am Nachmittag davor hatte er festgestellt, dass eine Spritze verschwunden war. Welche während der Nacht zurückgebracht wurde. Letzter Punkt: Am Handgelenk der Toten befand sich ein Einstich, wie ihn eine Spritze hinterlässt.« Colonel Carbury machte eine Pause. »Unter diesen Umständen hielt ich es für die Pflicht der zuständigen Behörden, den Fall zu untersuchen. Monsieur Hercule Poirot war mein Gast und bot mir anerkennenswerterweise seine speziellen Dienste an. Ich gab ihm freie Hand, alle Ermittlungen anzustellen, die er für richtig hielt. Und jetzt sind wir hier, um uns seinen Bericht anzuhören.« Es herrschte Stille. Man hätte, wie es so schön heißt, eine Stecknadel zu Boden fallen hören können, so still war es. Im Zimmer nebenan fiel tatsächlich etwas zu Boden, vermutlich ein Schuh. Es klang, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Poirot warf einen schnellen Blick auf die dreiköpfige Gruppe zu seiner Rechten und wandte seine Aufmerksamkeit dann den fünf Personen zu, die dicht beisammen zu seiner Linken saßen — fünf Menschen mit angsterfüllten Augen. Poirot sagte ruhig: »Als Colonel Carbury mir von der Sache erzählte, äußerte ich meine sachkundige Meinung. Ich sagte ihm, dass es vielleicht nicht möglich sein würde, Beweise zu liefern — Beweise, die bei Gericht zulässig wären. Aber ich erklärte ihm unmissverständlich, dass ich überzeugt war, die Wahrheit herauszufinden — allein durch die Befragung der betroffenen Personen. Denn ich darf Ihnen versichern, mes amis: Wenn man in einem Verbrechen ermittelt, muss man den oder die Schuldigen nur reden lassen — am Ende erzählen sie einem immer, was man wissen will!« Er hielt kurz inne. »Und obwohl Sie alle mich in diesem Fall angelogen haben, haben Sie mir auch unwillentlich die Wahrheit gesagt.« Er hörte, wie rechts von ihm jemand leise seufzte und das knarzende Geräusch eines Stuhls, doch er drehte sich nicht danach um. Sein Blick blieb auf die Boyntons gerichtet. »Als Erstes untersuchte ich die Möglichkeit, dass Mrs. Boynton eines natürlichen Todes gestorben war — und ich verwarf sie. Das fehlende Medikament, die Injektionsspritze und vor allem das Verhalten der Familie der Toten — alles überzeugte mich, dass diese Vermutung nicht aufrechtzuerhalten war. Nicht nur, dass Mrs. Boynton kaltblütig ermordet wurde — jedes Mitglied ihrer Familie war sich dieser Tatsache auch bewusst! Alle miteinander verhielten sich wie Schuldige. Aber es gibt unterschiedliche Grade von Schuld. Ich prüfte das Beweismaterial sorgfältig im Hinblick darauf, ob der Mord — ja, denn es war Mord — von der Familie der alten Dame gemeinschaftlich und vorsätzlich begangen worden war. Ich darf sagen, es gab ein überwältigendes Motiv. Jeder von ihnen profitierte von ihrem Tod — sowohl in finanzieller Hinsicht, denn sie erlangten dadurch finanzielle Unabhängigkeit und kamen in den Genuss eines sehr beträchtlichen Vermögens, als auch in dem Sinn, dass sie befreit wurden von einer Tyrannei, die geradezu unerträglich geworden war. Lassen Sie mich fortfahren. Ich kam zu dem Schluss — und das fast unverzüglich —, dass die Theorie eines gemeinschaftlichen Vorgehens nicht stichhaltig war. Die Aussagen der Familie Boynton stimmten nicht nahtlos überein, und man hatte sich keine plausiblen Alibis zurechtgelegt. Die Indizien schienen eher darauf hinzudeuten, dass ein einzelnes oder vielleicht zwei Mitglieder der Familie in geheimem Einverständnis gehandelt hatten und dass die anderen die Tat deckten. Als Nächstes überlegte ich, welche Person oder Personen speziell in Frage kamen. Ich muss gestehen, hierbei war ich geneigt, voreingenommen zu sein aufgrund eines Indizes, das nur mir bekannt war.« Hercule Poirot berichtete von dem Gespräch, das er in Jerusalem mit angehört hatte. »Das deutete natürlich stark daraufhin, dass in diesem Fall Mr. Raymond Boynton die treibende Kraft war. Ich studierte die Familie und kam zu dem Schluss, dass der Empfänger seiner vertraulichen Mitteilungen an diesem Abend höchstwahrscheinlich seine Schwester Carol war. Beide ähneln sich sehr in Aussehen und Naturell, und es besteht gewiss eine sehr enge und innige Beziehung zwischen ihnen. Darüber hinaus besitzen sie das nervöse, rebellische Temperament, das die Voraussetzung ist für das Konzept eines solchen Vorhabens. Dass ihr Motiv zum Teil uneigennützig war — sie wollten die ganze Familie befreien und insbesondere ihre jüngere Schwester — , machte die Planung der Tat nur noch plausibler.« Poirot hielt einen Moment inne. Raymond Boynton öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders. Seine Augen blickten Poirot unverwandt mit einem Ausdruck dumpfer Verzweiflung an. »Bevor ich näher darauf eingehe, was gegen Raymond Boynton spricht, möchte ich Ihnen eine Liste mit entscheidenden Fakten vorlesen, die ich aufstellte und heute Nachmittag Colonel Carbury vorlegte. ENTSCHEIDENDE FAKTEN Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt. Dr. Gerard vermisste eine Inj ektionsspritze. Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen. Mrs. Boynton war eine Sadistin. Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und der Stelle, wo Mrs. Boynton saß, beträgt (circa) 200 Meter. Mr. Lennox Boynton sagte zunächst aus, er wisse nicht, wann er ins Camp zurückgekommen sei, gab später je doch zu, die Armbanduhr seiner Mutter gestellt zu haben. Das Zelt von Dr. Gerard stand direkt neben dem von Miss Ginevra Boynton. Um 18.30 Uhr, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener zu Mrs. Boynton geschickt, um sie zu holen. 10. Mrs. Boynton benutzte in Jerusalem die Worte: >Ich vergesse nichts. Merken Sie sich das gut! Ich vergesse niemals etwas.< Obwohl ich diese Punkte einzeln aufgelistet habe, lassen sie sich gelegentlich paarweise zusammenfassen. Das ist zum Beispiel bei den beiden ersten der Fall. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt. Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Diese beiden Punkte waren das Erste, was mir bei diesem Fall auffiel, und ich darf Ihnen versichern, dass ich sie höchst erstaunlich fand — und sehr widersprüchlich. Sie verstehen nicht, was ich meine? Egal. Ich werde noch darauf zurückkommen. Es sei hier nur so viel gesagt, dass ich bemerkte, dass diese beiden Punkte dringend einer zufrieden stellenden Erklärung bedurften. Ich will mit meinen Überlegungen zu der Möglichkeit von Raymond Boyntons Schuld fortfahren. Die Fakten sind folgende: Er wurde belauscht, als er die Möglichkeit erörterte, Mrs. Boynton ums Leben zu bringen. Er befand sich in einem Zustand großer nervöser Erregung. Er hatte — Mademoiselle wird mir verzeihen«, er verbeugte sich wie zur Entschuldigung vor Sarah, »gerade einen Moment heftiger Gemütsbewegung durchlebt. Das heißt, er hatte sich verliebt. Der Überschwang seiner Gefühle könnte ihn zu ganz unterschiedlichen Handlungen veranlasst haben. Vielleicht ist er nun milder und nachsichtiger gegenüber der Welt im Allgemeinen, einschließlich seiner Stiefmutter — vielleicht hat er endlich den Mut, ihr die Stirn zu bieten und ihren Einfluss abzuschütteln. Aber vielleicht erhielt er auch den letzten Anstoß, sein verbrecherisches Vorhaben von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Das ist die Psychologie! Wenden wir uns nun den Fakten zu. Raymond Boynton verließ das Camp etwa Viertel nach drei mit den anderen. Mrs. Boynton war zu der Zeit erklärtermaßen wohlauf. Bald darauf hatten Raymond und Sarah King ihr kleines tête-a-tête. Dann verließ er Miss King. Wie er sagt, kehrte er zehn Minuten vor sechs ins Camp zurück. Er ging hinauf zu seiner Mutter, wechselte einige Worte mit ihr, ging dann in sein Zelt und anschließend hinunter in das Gemeinschaftszelt. Er sagt aus, dass Mrs. Boynton zehn Minuten vor sechs gesund und munter war. Aber nun kommen wir zu einem Sachverhalt, der dieser Aussage diametral widerspricht. Um halb sieben wurde Mrs. Boyntons Tod von einem Diener entdeckt. Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Leiche, und sie schwört, dass der Tod — obwohl sie nicht speziell auf den Zeitpunkt seines Eintritts achtete — eindeutig und unbestreitbar mindestens eine Stunde vor sechs Uhr stattgefunden hatte, wahrscheinlich sogar schon wesentlich früher. Sie sehen, wir haben es hier mit zwei widersprüchlichen Aussagen zu tun. Wenn wir die Möglichkeit beiseite lassen, dass Miss King einen Fehler gemacht hat — « »Ich mache keine Fehler«, fiel ihm Sarah ins Wort. »Und wenn ich einen gemacht hätte, würde ich es zugeben.« Ihre Stimme klang hart und entschieden. Poirot deutete eine höfliche Verbeugung an. »Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten — entweder Miss King lügt oder Mr. Boynton lügt! Betrachten wir die Gründe, die Raymond Boynton haben könnte, die Unwahrheit zu sagen. Nehmen wir an, Miss King hat sich nicht geirrt und nicht vorsätzlich gelogen. Wie hat es sich dann abgespielt? Raymond Boynton kommt zurück ins Camp, sieht seine Mutter vor ihrer Höhle sitzen, geht zu ihr und stellt fest, dass sie tot ist. Was macht er daraufhin? Ruft er Hilfe herbei? Unterrichtet er unverzüglich das ganze Camp? Nein, er wartet ein oder zwei Minuten, begibt sich dann in sein Zelt, geht in das Gemeinschaftszelt zu seiner Familie und sagt nichts. Ein solches Verhalten ist doch höchst kurios, nicht wahr?« Raymond sagte in nervösem, scharfem Ton: »Es wäre sogar absolut idiotisch. Schon das allein müsste Ihnen beweisen, dass meine Mutter noch gesund und munter war, genau wie ich sagte. Miss King war aufgeregt und durcheinander und muss sich geirrt haben.« »Es erhebt sich die Frage«, fuhr Poirot ungerührt fort, »ob es möglicherweise einen Grund gibt für ein solches Verhalten. Auf den ersten Blick scheint es, dass Raymond Boynton nicht der Täter sein kann, weil zu dem einzigen Zeitpunkt, zu dem er an jenem Nachmittag nachweislich seine Mutter aufsuchte, diese bereits seit geraumer Zeit tot war. Wenn wir also annehmen, dass Raymond Boynton unschuldig ist, wie können wir dann sein Verhalten erklären? Ich behaupte: Unter der Voraussetzung, dass er unschuldig ist, können wir es! Denn ich erinnere mich an die Worte, die ich zufällig hörte. >Du siehst doch ein, dass sie sterben muß!< Er kommt zurück von seinem Spaziergang und findet sie tot vor, und sein schuldbewusster Geist denkt sofort an eine ganz bestimmte Möglichkeit. Der Plan wurde ausgeführt — nicht von ihm, sondern von seiner Mitwisserin. Tout simplement, er hat den Verdacht, dass seine Schwester Carol die Tat begangen hat.« »Das ist eine Lüge«, sagte Raymond leise mit zitternder Stimme. »Betrachten wir nun die Möglichkeit«, fuhr Poirot fort, »dass Carol Boynton die Mörderin ist. Welche Indizien sprechen gegen sie? Sie hat das gleiche reizbare Temperament — die Art von Temperament, die in einer solchen Tat vielleicht etwas Heroisches sieht. Es war sie, mit der Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Carol Boynton kehrte zehn Minuten nach fünf ins Camp zurück. Ihrer eigenen Aussage zufolge ging sie hinauf zu ihrer Mutter und sprach mit ihr. Aber niemand hat sie dort gesehen. Das Camp war verlassen — die Boys schliefen. Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Cope erkundeten Höhlen außer Sichtweite des Camps. Niemand kann Carol Boyntons Aussage bezeugen. Der Zeitpunkt würde sehr wohl passen. Die Tatsachen sprechen also für eine Täterschaft von Carol Boynton.« Er hielt inne. Carol hatte den Kopf gehoben. Ihre Augen blickten Poirot unverwandt und bekümmert an. »Es gibt noch einen weiteren Punkt. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, wurde Carol Boynton dabei beobachtet, wie sie etwas in das Wadi warf. Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieses Etwas eine Spritze war.« »Comment?« Dr. Gerard blickte überrascht auf. »Aber meine Spritze wurde zurückgebracht. Ja, ja, ich habe sie wieder!« Poirot nickte nachdrücklich. »Gewiss, gewiss. Diese zweite Spritze — sie ist sehr merkwürdig, sehr interessant. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass diese Spritze Miss King gehörte. Ist das richtig?« Sarah zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Carol war schneller. »Es war nicht Miss Kings Spritze«, sagte sie. »Es war meine.« »Dann geben Sie zu, sie weggeworfen zu haben, Mademoiselle?« Sie zauderte kaum merklich: »Ja, natürlich. Warum sollte ich es nicht zugeben?« »Carol!« Es war Nadine. Sie beugte sich vor und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen besorgt an. »Carol. Ich verstehe das nicht.« Carol drehte sich um und sah sie an. Ihr Blick hatte etwas Feindseliges. »Was gibt es da zu verstehen? Ich habe eine alte Spritze weggeworfen. Das Gift — habe ich nicht angerührt.« Sarah mischte sich ein: »Was Miss Pierce Ihnen erzählt hat, ist die Wahrheit, Monsieur Poirot. Es war meine Spritze.« Poirot lächelte. »Sie ist sehr verwirrend, diese Sache mit der Spritze — dennoch glaube ich, dass sie sich erklären lässt. Alors, wir haben somit triftige Gründe für zwei Dinge — triftige Gründe für die Unschuld von Raymond Boynton und triftige Gründe für die Schuld seiner Schwester Carol. Aber ich, ich bin immer sehr gewissenhaft und unparteiisch. Ich betrachte stets beide Seiten. Untersuchen wir nun, was sich ereignete, falls Carol Boynton unschuldig ist. Sie kehrt zurück ins Camp, sie geht hinauf zu ihrer Stiefmutter und stellt fest, dass sie — sagen wir — tot ist. Was ist das Erste, was sie denkt? Sie muss annehmen, dass ihr Bruder Raymond sie getötet hat. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Also sagt sie nichts. Und bald darauf, etwa eine Stunde später, kommt Raymond Boynton zurück, und da er angeblich mit seiner Mutter gesprochen hat, sagt er kein Wort davon, dass etwas nicht stimmt. Meinen Sie nicht, dass Carol Boyntons Verdacht daraufhin zur Gewissheit wird? Vielleicht geht sie in sein Zelt und findet dort eine Spritze. Und dann hat sie den Beweis! Sie nimmt die Spritze unverzüglich an sich und versteckt sie. Am nächsten Morgen wirft sie sie in aller Frühe weg, so weit sie kann. Es gibt noch einen weiteren Hinweis, dass Carol Boynton unschuldig ist. Als ich sie befrage, versichert sie mir, dass sie und ihr Bruder nie ernsthaft vorhatten, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ich bitte sie, es mir zu schwören — und sie schwört auf der Stelle und mit feierlichem Ernst, dass sie nichts mit diesem Verbrechen zu tun hat! Ja, so drückt sie sich aus. Sie schwört nicht, dass sie und ihr Bruder unschuldig sind. Sie schwört nur für sich selbst — und denkt, dass ich dem Pronomen keine besondere Beachtung schenken werde. Eh bien, das sind die Gründe, die für die Unschuld von Carol Boynton sprechen. Und nun gehen wir etwas zurück und befassen uns nicht mit der Unschuld, sondern mit der möglichen Täterschaft von Raymond. Nehmen wir einmal an, dass Carol die Wahrheit sagt, dass Mrs. Boynton um zehn Minuten nach fünf tatsächlich noch lebte. Unter welchen Umständen kann Raymond dann der Täter sein? Wir können unterstellen, dass er seine Mutter zehn Minuten vor sechs tötete, als er hinaufging, um mit ihr zu sprechen. Gewiss, es waren Boys im Camp unterwegs, aber es dämmerte bereits. Es wäre also möglich gewesen. Aber das würde bedeuten, dass Miss King gelogen hat. Vergessen Sie nicht, dass sie nur fünf Minuten nach Raymond ins Camp zurückkehrte. Sie sieht von weitem, wie er zu seiner Mutter geht. Als diese später tot aufgefenden wird, begreift Miss King, dass Raymond sie getötet hat, und um ihn zu retten, lügt sie — wohl wissend, dass Dr. Gerard mit Fieber zu Bett liegt und sie nicht der Lüge überführen kann!« »Ich habe nicht gelogen!«, sagte Sarah bestimmt. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wie gesagt, Miss King erreichte das Camp einige Minuten nach Raymond. Falls Raymond Boynton seine Mutter tatsächlich lebend antraf, dann könnte Miss King die tödliche Injektion verabreicht haben. Sie war überzeugt, dass Mrs. Boynton ein durch und durch böser Mensch war. Sie könnte sich als die Vollstreckerin einer gerechten Strafe betrachtet haben. Das würde auch erklären, warum sie bezüglich der Todeszeit gelogen hat.« Sarah war sehr blass geworden. Mit leiser, ruhiger Stimme sagte sie: »Es ist wahr, ich habe davon gesprochen, dass die Umstände es erfordern können, dass einer stirbt, um viele zu retten. Die Opferstätte hatte mich auf diesen Gedanken gebracht. Aber ich kann beschwören, dass ich dieser widerwärtigen alten Frau nie etwas zuleide getan habe — dass mir ein solcher Gedanke nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre!« »Und doch steht fest«, sagte Poirot sanft, »dass einer von Ihnen beiden lügt.« Raymond Boynton rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann rief er ungestüm aus: »Sie haben gewonnen, Monsieur Poirot! Der Lügner bin ich! Mutter war bereits tot, als ich zu ihr hinaufging. Ich war — wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte klare Verhältnisse schaffen, verstehen Sie? Ihr sagen, dass ich von jetzt an mein eigener Herr bin. Ich war wirklich fest entschlossen, wissen Sie. Und dann war sie — tot! Ihre Hand war so kalt und schlaff. Und ich dachte — genau das, was Sie sagten. Ich dachte, dass vielleicht Carol. Sie hatte doch diesen Einstich am Handgelenk — « Poirot unterbrach ihn: »Das ist der einzige Punkt, über den ich nicht vollständig informiert bin. Was war die Methode, die Sie anzuwenden gedachten? Sie hatten doch einen Plan — und dieser hatte etwas mit einer Spritze zu tun. So viel weiß ich. Wenn ich Ihnen glauben soll, müssen Sie mir jetzt auch den Rest erzählen.« Raymond sagte hastig: »Ich hatte es in einem Buch gelesen — einem englischen Kriminalroman. Man nimmt eine Spritze, die mit Luft gefüllt ist, und sticht damit zu, das ist alles. Es klang sehr wissenschaftlich. Ich — ich dachte, dass wir es so machen würden.« »Ah«, sagte Poirot. »Ich verstehe. Und Sie kauften eine Spritze?« »Nein. Genau gesagt habe ich mir die von Nadine besorgt.« Poirot warf einen raschen Blick auf die junge Frau. »Die Spritze, die sich in Ihrem Gepäck in Jerusalem befindet?«, erkundigte er sich. Nadine Boyntons Wangen röteten sich. »Ich — ich wusste nicht genau, wo sie abgeblieben war«, murmelte sie. »Sie sind sehr schlagfertig, Madame«, sagte Poirot leise. Sechzehntes Kapitel Es entstand eine Pause. Dann räusperte sich Poirot, was leicht affektiert klang, und fuhr fort: »Damit haben wir das Rätsel der zweiten Spritze gelöst. Diese gehörte Mrs. Lennox Boynton, wurde vor der Abreise aus Jerusalem von Raymond Boynton an sich gebracht, wurde nach der Entdeckung der Leiche von Mrs. Boynton von Carol an sich genommen, wurde von ihr weggeworfen, von Miss Pierce gefunden und von Miss King als die ihre erklärt. Ich nehme an, sie befindet sich noch immer in Miss Kings Besitz.« »So ist es«, sagte Sarah. »Folglich haben Sie, als Sie vorhin sagten, sie gehöre Ihnen, etwas getan, was sie angeblich nicht tun — Sie haben gelogen.« »Das ist etwas anderes«, sagte Sarah ruhig. »Hier geht es nicht um eine — eine berufliche Lüge.« Gerard nickte beifällig. »Ja, das ist ein Argument, in der Tat. Ich verstehe Sie vollkommen, Mademoiselle.« »Danke«, sagte Sarah. Wieder räusperte sich Poirot. »Wenden wir uns nun der Zeittabelle zu. Alors: 15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp. 15.15 (ca.): Dr. Gerard und Sarah King verlassen das Camp. 16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp. 16.20 (ca.): Dr. Gerard kommt zurück ins Camp. 16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp. 16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs. Boynton. 16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt. 17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp. 17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Jefferson Cope kommen zurück ins Camp. 17.50: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp. 18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp. 18.30: Die Tote wird entdeckt. Sie werden bemerken, dass es eine Lücke von zwanzig Minuten gibt zwischen 16.50 Uhr, als Nadine Boynton ihre Schwiegermutter verließ, und 17.10 Uhr, als Carol zurückkam. Wenn Carol also die Wahrheit sagt, dann muss Mrs. Boynton in diesen zwanzig Minuten ermordet worden sein. Aber wer könnte sie getötet haben? Miss King und Raymond Boynton waren zu der Zeit zusammen. Mr. Cope, der allerdings kein erkennbares Motiv für die Tat hat, besitzt ein Alibi. Er hielt sich bei Lady Westholme und Miss Pierce auf. Lennox Boynton war mit seiner Frau im Gemeinschaftszelt. Dr. Gerard lag stöhnend mit Fieber in seinem Zelt. Das Camp ist verlassen, die Boys schlafen. Der Moment für ein Verbrechen ist günstig! Gab es eine Person, die es hätte verüben können?« Sein Blick wanderte nachdenklich zu Ginevra Boynton. »Es gab tatsächlich eine solche Person. Ginevra Boynton war den ganzen Nachmittag in ihrem Zelt. Das wurde uns jedenfalls gesagt — aber es besteht Grund zu der Annahme, dass sie sich nicht die ganze Zeit in ihrem Zelt aufhielt. Ginevra Boynton machte eine sehr aufschlussreiche Bemerkung. Sie sagte, dass Dr. Gerard im Fieber ihren Namen sprach. Und Dr. Gerard hat uns erzählt, dass er in seinen Fieberträumen Ginevra Boyntons Gesicht sah. Aber das war kein Traum! Es war tatsächlich sie, die er neben seinem Bett stehen sah. Er hielt es für einen Fieberwahn — aber es war Realität. Ginevra war in Dr. Gerards Zelt, Ist es nicht möglich, dass sie gekommen war, um die Spritze zurückzubringen, nachdem sie sie benutzt hatte?« Ginevra Boynton hob den Kopf mit dem Kranz aus rotblondem Haar. Ihre schönen großen Augen, die noch ausdrucksloser als sonst waren, starrten Poirot an. Sie wirkte wie eine entrückte Heilige. »»Ah, ça non!«, rief Dr. Gerard aus. »Ist es psychologisch denn so unmöglich?«, erkundigte sich Poirot. Der Franzose blickte zu Boden. Nadine Boynton sagte scharf: »Ausgeschlossen!« Poirot sah sie schnell an. »Ausgeschlossen, Madame?« »Ja.« Sie hielt inne, biss sich auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich werde mir eine derart schändliche Beschuldigung meiner Schwägerin nicht anhören. Wir — wir alle wissen, dass das völlig unmöglich ist.« Ginevra bewegte sich auf ihrem Stuhl. Ihr Mund entspannte sich zu einem Lächeln — dem anrührenden, unschuldigen, halb unbewussten Lächeln eines noch sehr jungen Mädchens. Nadine sagte noch einmal: »Völlig unmöglich!« Ihr sanftes Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Der Blick, mit dem sie Poirot ansah, war hart und unnachgiebig. Poirot deutete eine leichte Verbeugung an. »Madame ist sehr intelligent«, sagte er. »Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot?«, fragte Nadine ruhig. »Ich will damit sagen, Madame, dass ich gleich bemerkt habe, dass Sie ein >helles Köpfchen< sind, wie man so schön sagt.« »Sie schmeicheln mir.« »Ich glaube nicht. Sie haben die Situation die ganze Zeit ruhig und im Ganzen gesehen. Nach außen hin blieben Sie mit Ihrer Schwiegermutter auf gutem Fuß, weil Sie das für das Beste hielten, aber in Ihrem Inneren haben Sie über sie gerichtet und sie verurteilt. Ich glaube, Sie erkannten schon vor geraumer Zeit, dass die einzige Chance Ihres Mannes, glücklich zu werden, darin bestand, sich von seiner Familie frei zu machen — seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn dieses Leben Mühsal und Entbehrung bedeutete. Sie waren bereit, jedes Risiko einzugehen, und Sie versuchten alles, um ihn dazu zu bringen, diesen Weg einzuschlagen. Aber Sie scheiterten, Madame. Lennox Boynton besaß nicht mehr den Willen, frei zu sein. Er war es zufrieden, in Apathie und Melancholie zu versinken. Ich habe jedoch nicht den geringsten Zweifel, Madame, dass Sie Ihren Gatten lieben. Ihr Entschluss, ihn zu verlassen, wurde nicht durch eine größere Liebe zu einem anderen Mann ausgelöst. Es war wohl eher ein verzweifelter Versuch, die letzte Karte, auf die Sie Ihre Hoffnung setzten. Eine Frau in Ihrer Situation konnte nur drei Dinge tun. Sie konnte es mit Bitten versuchen. Das fruchtete nichts, wie ich bereits sagte. Sie konnte ihrem Mann drohen, ihn zu verlassen. Aber es ist möglich, dass selbst diese Drohung ihre Wirkung bei Lennox Boynton verfehlt hätte, dass sie ihn nur noch elender machen, jedoch nicht veranlassen würde, sich aufzulehnen. Aber es gab noch einen letzten, verzweifelten Schritt. Sie konnten mit einem anderen Mann fortgehen. Eifersucht und Besitztrieb gehören zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen. Sie bewiesen Ihre Klugheit, indem Sie versuchten, an diesen wilden Urinstinkt zu appellieren. Wenn Lennox Boynton Sie widerspruchslos zu einem anderen Mann gehen ließ — dann war ihm in der Tat nicht mehr zu helfen, dann konnten Sie ebenso gut versuchen, mit einem anderen ein neues Leben zu beginnen. Aber nehmen wir einmal an, dass selbst dieses letzte, desperate Mittel versagte. Ihr Mann war schrecklich bestürzt über Ihren Entschluss, aber er reagierte trotzdem nicht so, wie Sie gehofft hatten und wie ein primitiver Mensch reagiert hätte, nämlich mit einem Ausbruch von Besitzgier. Gab es überhaupt etwas, um Ihren Mann vor dem rapide fortschreitenden geistigen Verfall zu retten? Es gab nur eins. Wenn seine Stiefmutter tot wäre, dann wäre es vielleicht noch nicht zu spät. Dann könnte es ihm gelingen, als freier Mann ein neues Leben anzufangen, seine Selbstständigkeit und Männlichkeit wiederzugewinnen.« Poirot schwieg einen Moment und sagte dann noch einmal:    »Wenn seine Stiefmutter tot wäre.« Nadines Augen waren noch immer auf Poirot gerichtet. Mit unbewegter, ruhiger Stimme sagte sie:    »Sie wollen damit andeuten, dass ich mithalf, ihren Tod herbeizuführen? Aber das können Sie nicht, Monsieur, Poirot. Nachdem ich Mrs. Boynton meine bevorstehende Abreise mitgeteilt hatte, ging ich direkt ins Gemeinschaftszelt zu Lennox. Und ich habe das Zelt erst wieder verlassen, nachdem meine Schwiegermutter tot aufgefunden worden war. Ich mag in gewissem Sinn an ihrem Tod schuld sein, weil ich ihr einen Schock versetzte — was wiederum bedeuten würde, dass sie eines natürlichen Todes starb. Wenn sie aber, wie Sie behaupten, vorsätzlich ermordet wurde — wofür Sie bislang keine Beweise haben und auch nicht haben können, bevor eine Autopsie stattgefunden hat —, dann hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit, die Tat zu begehen.« »Sie haben also«, sagte Poirot, »das Gemeinschaftszelt nicht mehr verlassen, bis Ihre Schwiegermutter tot aufgefunden wurde. Das haben Sie gerade gesagt. Und das, Mrs. Boynton, war einer der Punkte, die ich an diesem Fall merkwürdig fand.« »Wie meinen Sie das?« »Er steht hier auf meiner Liste. Punkt neun. Um halb sieben, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener geschickt, um Mrs. Boynton Bescheid zu sagen.« »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, warf Raymond ein. »Ich auch nicht«, sagte Carol. Poirot blickte vom einen zum anderen. »Nein? Ein Diener wurde geschickt — warum ein Diener? Waren Sie, Sie alle hier, in der Regel nicht immer höchst beflissen und besorgt um die alte Dame? Geleitete sie nicht stets der eine oder andere von Ihnen zu den Mahlzeiten? Sie war gebrechlich. Sie hatte Probleme, sich ohne fremde Hilfe vom Stuhl zu erheben. Immer war der eine oder andere von Ihnen an ihrer Seite. Ich behaupte daher, dass es die natürlichste Sache von der Welt gewesen wäre, wenn jemand von der Familie sich zu ihr begeben und ihr geholfen hätte, als das Abendessen fertig war. Aber keiner von Ihnen machte Anstalten, sie zu holen. Sie alle saßen da wie gelähmt, beobachteten einander und wunderten sich vielleicht, warum niemand zu ihr ging.« Nadine sagte scharf: »Das ist doch völlig absurd, Monsieur Poirot! Wir waren alle müde an dem Abend. Ich gebe zu, wir hätten selbst gehen müssen, aber an dem Abend taten wir es nun einmal nicht!« »Genau das meine ich — an dem bewussten Abend! Sie, Madame, kümmerten sich vielleicht mehr um sie als jeder andere. Sie hielten es für Ihre selbstverständliche Pflicht. Doch an diesem Abend boten Sie nicht an, sie holen zu gehen. Warum nicht? Genau das fragte ich mich — warum nicht? Und ich will Ihnen die Antwort verraten: Weil Sie sehr wohl wussten, dass sie tot war... Nein, sagen Sie jetzt nichts, Madame.« Poirot hob abwehrend die Hand. »Sie werden mir jetzt zuhören — mir, Hercule Poirot! Es gab Zeugen für Ihr Gespräch mit Ihrer Schwiegermutter. Zeugen, die Sie sehen, aber nicht hören konnten! Lady Westholme und Miss Pierce waren zu weit weg. Die beiden Damen sahen, wie Sie sich anscheinend mit Ihrer Schwiegermutter unterhielten, aber welche Beweise haben wir, dass es sich tatsächlich so verhielt? Ich möchte Ihnen eine kleine Theorie vortragen. Sie haben Verstand, Madame. Wenn Sie in Ihrer ruhigen und überlegten Art etwas beschließen — sagen wir die Beseitigung der Mutter Ihres Mannes —, dann führen Sie es mit Umsicht und nach der entsprechenden Vorbereitung aus. Sie haben Zugang zu Dr. Gerards Zelt, während dieser an der morgendlichen Exkursion teilnimmt. Sie sind ziemlich sicher, dass Sie ein geeignetes Arzneimittel finden werden. Ihre Ausbildung als Krankenschwester hilft Ihnen dabei. Sie wählen Digitoxin, ein Medikament, das die alte Dame einnimmt — und Sie nehmen seine Injektionsspritze an sich, denn Ihre eigene ist zu Ihrem Ärger verschwunden. Sie hoffen, die Spritze zurückbringen zu können, bevor der Doktor ihr Fehlen bemerkt. Bevor Sie mit der Ausführung Ihres Plans beginnen, unternehmen Sie einen letzten Versuch, Ihren Mann zum Handeln zu veranlassen. Sie teilen ihm Ihre Absicht mit, Jefferson Cope zu heiraten. Obwohl Ihr Mann äußerst bestürzt ist, reagiert er nicht so, wie Sie gehofft hatten — Sie sind also gezwungen, Ihren Mordplan in die Tat umzusetzen. Sie gehen zurück ins Camp und wechseln im Vorbeigehen einige freundliche Worte mit Lady Westholme und Miss Pierce. Sie gehen hinauf, wo Ihre Schwiegermutter sitzt. Die Spritze mit dem Medikament haben Sie bei sich. Es ist nicht schwer, ihr Handgelenk zu packen und — als Krankenschwester haben Sie schließlich Übung darin — die Spritze zu verabreichen. Bevor Ihre Schwiegermutter begreift, was Sie tun, ist alles vorbei. Die anderen Leute weiter unten im Tal sehen nur, dass Sie mit ihr reden, sich über sie beugen. Dann holen Sie ganz bewusst einen Stuhl, setzen sich zu ihr und plaudern offenbar einige Minuten mit ihr. Der Tod muss fast augenblicklich eingetreten sein. Sie reden mit einer Toten, aber wer würde das erraten? Dann bringen Sie den Stuhl zurück und gehen hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo Sie Ihren Mann lesend vorfinden. Und Sie sind sehr darauf bedacht, das Zelt nicht wieder zu verlassen! Sie sind überzeugt, dass man Mrs. Boyntons Tod auf Herzversagen zurückführen wird. Und die Todesursache wird ja tatsächlich Herzversagen sein. Nur in einem Punkt geht Ihr Plan schief. Sie können die Spritze nicht in Dr. Gerards Zelt zurückbringen, weil der gute Doktor mit einem Malariaanfall darniederliegt und — was Sie nicht wissen können — dieSpritze bereits vermisst hat. Das, Madame, war der schwache Punkt eines ansonsten perfekten Verbrechens.« Einen Moment lang herrschte Stille — Totenstille. Dann sprang Lennox Boynton auf und schrie: »Nein! Das ist eine verdammte Lüge! Nadine hat nichts damit zu tun. Sie hätte es gar nicht tun können. Meine Mutter — meine Mutter war bereits tot.« »Ah!« Poirot bedachte ihn mit einem freundlichen Blick. »Dann haben also Sie sie getötet, Mr. Boynton.« Wieder herrschte Schweigen — bis Lennox sich auf seinen Stuhl fallen ließ und zitternd die Hände vors Gesicht schlug. »Ja — es stimmt. Ich habe sie getötet.« »Sie entwendeten das Digitoxin aus Dr. Gerards Zelt?« »Ja.« »Wann?« »Als — wie Sie sagten, am Vormittag.« »Und die Spritze?« »Die Spritze? Die auch.« »Warum haben Sie sie getötet?« »Das fragen Sie noch?« »Ja, das frage ich Sie, Mr. Boynton.« »Aber das wissen Sie doch — meine Frau wollte mich verlassen, mit Cope.« »Gewiss, aber das erfuhren Sie erst am Nachmittag. « Lennox starrte ihn an. »Ja, als wir den Spaziergang machten.« »Dennoch nahmen Sie das Gift und die Spritze bereits am Vormittag an sich — bevor Sie es erfuhren?« »Warum, zum Teufel, quälen Sie mich mit Ihren Fragen?« Er hielt inne und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. »Kommt es denn darauf noch an?« »Darauf kommt es sehr wohl an. Ich gebe Ihnen den guten Rat, Mr. Boynton, mir die Wahrheit zu sagen.« »Die Wahrheit?« Lennox stierte ihn an. »Das sagte ich — die Wahrheit.« »Bei Gott, Sie sollen sie hören«, sagte Lennox unvermittelt. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden.« Er holte tief Luft. »Als ich Nadine an dem Nachmittag verließ, war ich am Boden zerstört. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie mich wegen eines anderen verlassen würde. Ich war — wie von Sinnen! Ich hatte das Gefühl, betrunken zu sein oder eine schwere Krankheit hinter mir zu haben.« Poirot nickte und sagte: »Ich erinnere mich, was Lady Westholme über Ihren Gang sagte, als Sie bei ihr vorbeikamen. Darum wusste ich, dass Ihre Frau nicht die Wahrheit sprach, als sie erklärte, sie hätte es Ihnen erst nach Ihrer Rückkehr ins Camp gesagt. Fahren Sie fort, Mr. Boynton.« »Ich wusste kaum, was ich tat... Aber auf dem Weg ins Camp schien mein Kopf wieder klarer zu werden. Mir ging schlagartig auf, dass ich alles nur mir selbst zuzuschreiben hatte! Ich war ein jämmerlicher Waschlappen gewesen! Ich hätte meiner Stiefmutter die Stirn bieten müssen und schon Vorjahren weggehen sollen. Und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht trotz allem noch nicht zu spät war. Da saß sie, diese teuflische alte Frau, hockte wie ein abscheulicher Götze vor der roten Felswand. Ich ging geradewegs zu ihr, um die Sache mit ihr auszufechten. Ich wollte ihr klipp und klar meine Meinung sagen und dass ich weggehen würde. Ich hatte die verrückte Vorstellung, noch am gleichen Abend verschwinden zu können — mit Nadine fortzugehen und noch vor Einbruch der Nacht bis nach Ma’an zu kommen.« »Oh, Lennox, Liebster.« Es klang wie ein gedehnter leiser Seufzer. »Und dann«, fuhr Lennox fort, »mein Gott, ich war wie vom Blitz gerührt! Sie war tot. Saß da — und war tot! Ich — ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie betäubt, benommen — alles, was ich ihr ins Gesicht hatte schreien wollen, ballte sich in mir zusammen, wurde zu Blei. Ich kann es nicht erklären. Zu Stein — ja, als würde alles in mir zu Stein. Dann tat ich etwas ganz Mechanisches — ich nahm ihre Armbanduhr — sie lag auf ihrem Schoß — und band sie ihr um — um das schrecklich schlaffe tote Handgelenk.« Er erschauerte. »O Gott, es war furchtbar! Dann wankte ich hinunter ins Gemeinschaftszelt. Ich hätte jemand rufen müssen, ich weiß — aber ich konnte es nicht. Ich saß einfach da, blätterte in einer Zeitschrift — und wartete.« Er brach ab. »Sie werden mir nicht glauben, Monsieur Poirot! Wie könnten Sie auch? Warum habe ich keine Hilfe geholt? Warum Nadine nichts davon gesagt? Ich weiß es nicht.« Dr. Gerard räusperte sich. »Ihre Erklärung ist absolut plausibel, Mr. Boynton«, sagte er. »Sie befanden sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung. Zwei schwere seelische Erschütterungen so kurz hintereinander genügten völlig, um Sie in den Zustand zu versetzen, den Sie uns geschildert haben. Es handelt sich dabei um die so genannte Weißenhalter’sche Reaktion — illustriert am Beispiel eines Vogels, der mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe stößt. Selbst nachdem er sich erholt hat, vermeidet er instinktiv jede Bewegung, um seinen Nervenzentren Zeit zu geben, sich zu erholen — ich kann mich auf Englisch nicht richtig ausdrücken, aber ich will damit Folgendes sagen: Sie hätten gar nicht anders handeln können. Entschlossenes Handeln jedweder Art wäre Ihrerseits absolut unmöglich gewesen! Sie befanden sich in einem Stadium geistiger Lähmung.« An Poirot gewandt setzte er hinzu: »Ich versichere Ihnen, mon ami, dass es sich so verhält.« »Oh, daran zweifle ich nicht«, sagte Poirot. »Es gibt da einen kleinen Punkt, der mir bereits aufgefallen war — die Tatsache, dass Mr. Boynton seiner Stiefmutter die Armbanduhr wieder umgebunden hat. Dafür kann es zwei Erklärungen geben. Es könnte eine Tarnung für die eigentliche Tat gewesen sein, oder es hätte von Nadine Boynton beobachtet und falsch verstanden werden können. Sie kehrte nur fünf Minuten nach ihrem Mann zurück. Sie muss es also gesehen haben. Als sie zu ihrer Schwiegermutter kam und sie tot vorfand mit einem Einstich am Handgelenk, musste sie zwangsläufig den voreiligen Schluss ziehen, dass ihr Mann die Tat begangen hatte — dass ihr Entschluss, ihn zu verlassen, eine andere als die von ihr erhoffte Reaktion bei ihm hervorgerufen hatte. Kurzum, Nadine Boynton glaubte, dass sie ihren Mann veranlasst hatte, einen Mord zu begehen.« Er sah Nadine an. »Ist es nicht so, Madame?« Sie senkte den Kopf. Dann fragte sie: »Hatten Sie mich tatsächlich im Verdacht, Monsieur Poirot?« »Sie kamen als Täter in Frage, Madame.« Sie beugte sich vor. »Und was geschah nun wirklich, Monsieur Poirot?« Siebzehntes Kapitel »Was wirklich geschah?«, wiederholte Poirot. Er griff hinter sich, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er war auf einmal umgänglich, ungezwungen. »Das ist die große Frage, nicht wahr? Denn das Digitoxin wurde entwendet — die Spritze war verschwunden — am Handgelenk der Toten war der Einstich einer Spritze zu sehen. Es ist richtig, dass wir in einigen Tagen definitiv wissen werden, ob Mrs. Boynton an einer Überdosis Digitalis starb oder nicht — die Autopsie wird es uns sagen. Aber dann könnte es zu spät sein! Es wäre besser, die Wahrheit heute Abend herauszufinden — solange der Mörder noch hier unter uns ist.« Nadine hob abrupt den Kopf. »Heißt das, dass Sie immer noch glauben — dass einer von uns — einer hier im Zimmer.« Ihre Stimme erstarb. Poirot nickte bedächtig vor sich hin. »Ich habe Colonel Carbury die Wahrheit versprochen. Und nun, nachdem wir alles aus dem Weg geräumt haben, stehen wir wieder dort, wo ich schon angelangt war, als ich eine Liste der Fakten niederschrieb und mich umgehend mit zwei eklatanten Widersprüchen konfrontiert sah.« Zum ersten Mal mischte sich Colonel Carbury ein. »Wie wär’s, wenn Sie das näher erläutern würden?«, schlug er vor. »Ich bin im Begriff, es zu tun«, sagte Poirot würdevoll. »Wir werden uns noch einmal die beiden ersten Punkte auf meiner Liste vornehmen. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt, und Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Betrachten wir diese beiden Fakten und stellen wir sie der unbestreitbaren Tatsache gegenüber — die mir sofort ins Auge sprang —, dass die Reaktion der Familie Boynton unverkennbar schuldbewusst war. Man sollte daher meinen, dass nur jemand aus der Familie das Verbrechen begangen haben konnte! Aber genau die beiden Punkte, die ich erwähnte, sprechen gegen diese Theorie. Sie müssen wissen, eine konzentrierte Lösung Digitalis zu verwenden — das ist ein raffinierter Schachzug, o ja, denn Mrs. Boynton nahm dieses Medikament ohnehin ein. Aber was würde jemand aus ihrer Familie damit tun? Darauf gibt es nur eine vernünftige Antwort. Er würde es in ihr Medizinfläschchen tun! Genau das würde jeder, aber auch jeder, der einen Funken Verstand besitzt und Zugang zu dem Medikament hatte, mit Sicherheit tun! Früher oder später nimmt Mrs. Boynton ihre Medizin und stirbt — und selbst wenn das Digitoxin in dem Fläschchen entdeckt wird, lässt es sich leicht auf ein Versehen des Apothekers zurückführen, der die Medizin zusammenstellte. Auf jeden Fall kann man nichts beweisen! Warum dann der Diebstahl der Inj ektionsspritze ? Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben. Entweder Dr. Gerard übersah die Spritze und sie wurde gar nicht gestohlen, oder aber die Spritze wurde entwendet, weil der Mörder keinen Zugang zu dem Medikament hatte — und das heißt, der Mörder war nicht ein Mitglied der Familie Boynton. Die beiden ersten Punkte meiner Liste deuten ganz entschieden darauf hin, dass das Verbrechen von einem Außenstehenden verübt wurde! Ich erkannte das sofort — aber wie gesagt, ich war irritiert, weil die Familie Boynton so offenkundige Anzeichen von schlechtem Gewissen erkennen ließ. War es möglich, dass die Familie trotz ihres Schuldbewusstseins dennoch unschuldig war? Ich machte mich daran, es zu beweisen — nicht die Schuld, sondern die Unschuld dieser Menschen! So viel wissen wir jetzt. Der Mord wurde von einem Außenstehenden begangen — das heißt, von einer Person, die Mrs. Boynton nicht nahe genug stand, um in ihr Zelt gehen zu können oder sich an ihrem Medizinfläschchen zu schaffen zu machen.« Er schwieg einen Moment. »In diesem Raum befinden sich drei Personen, die, rein technisch, Außenstehende sind, mit diesem Fall aber in engem Zusammenhang stehen. Mr. Cope, mit dem wir uns als Erstes beschäftigen wollen, ist seit längerem mit der Familie Boynton befreundet. Können wir bei ihm ein Motiv und eine Gelegenheit für die Tat erkennen? Anscheinend nicht. Mrs. Boyntons Tod hatte negative Auswirkungen für ihn — denn er zerstörte gewisse Hoffnungen, die Mr. Cope sich gemacht hatte. Sofern sein Motiv nicht das geradezu fanatische Verlangen war, anderen eine Wohltat zu erweisen, liegt bei ihm kein erkennbarer Grund vor, warum er Mrs. Boyntons Tod gewünscht haben sollte. Es sei denn, es gibt ein Motiv, von dem wir nichts ahnen. Wir wissen schließlich nicht exakt, welcher Art Mr. Copes Beziehung zu der Familie Boynton war.« »Das, Monsieur Poirot«, sagte Mr. Cope würdevoll, »erscheint mir doch ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Sie sollten nicht vergessen, dass ich überhaupt keine Gelegenheit hatte, diese Tat zu begehen, und außerdem vertrete ich sehr entschiedene Ansichten, was die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens betrifft.« »Ihre Position scheint tatsächlich unangreifbar zu sein«, sagte Poirot mit großem Ernst. »In einem Roman würde Sie das sehr verdächtig machen.« Er drehte sich etwas auf dem Stuhl herum. »Und nun zu Miss King. Miss King hatte durchaus ein Motiv, sie verfügt über die erforderlichen medizinischen Kenntnisse und sie besitzt Charakterstärke und Entschlossenheit. Aber da sie das Camp vor halb vier mit den anderen verließ und erst um sechs Uhr zurückkam, fällt es mir schwer zu sehen, wann sie die Gelegenheit dazu gehabt haben könnte. Wenden wir uns nun Dr. Gerard zu. Hier müssen wir in Betracht ziehen, wann der Mord tatsächlich begangen wurde. Laut Mr. Lennox Boyntons letzter Aussage war seine Mutter um 16.35 Uhr tot. Laut Lady Westholme und Miss Pierce war sie um 16.15 Uhr noch am Leben, als die beiden Damen zu ihrem Spaziergang aufbrachen. Dazwischen klafft eine Lücke von exakt zwanzig Minuten. Als die beiden Damen sich vom Camp entfernten, kam ihnen Dr. Gerard entgegen, der ins Camp zurückging. Aber niemand kann sagen, was Dr. Gerard tat, als er das Camp erreichte, denn die beiden Damen gingen in die entgegengesetzte Richtung und wandten ihm den Rücken zu. Es ist daher absolut möglich, dass Dr. Gerard das Verbrechen verübte. Als Arzt konnte er ohne weiteres die Symptome einer Malaria simulieren. Und ich wage zu behaupten, dass es ein mögliches Motiv gibt. Dr. Gerard wünschte vielleicht eine bestimmte Person zu retten, deren Verstand in Gefahr war — was vielleicht ein größerer Verlust ist als der Verlust des Lebens. Oder er dachte, dass es sich lohnt, dafür ein altes und verbrauchtes Leben zu opfern!« »Das ist doch absurd!«, sagte Dr. Gerard. Poirot sprach weiter, ohne von ihm Notiz zu nehmen. »Aber wenn es so wäre, warum wies Gerard dann auf die Möglichkeit hin, dass etwas faul sein könnte? Ohne seine Aussage gegenüber Colonel Carbury, so viel steht fest, wäre Mrs. Boyntons Tod auf natürliche Ursachen zurückgeführt worden. Es war Dr. Gerard, der als Erster die Möglichkeit eines Mordes andeutete. Und das, mes amis«, sagte Poirot, »ist wider alle Vernunft!« »Scheint mir auch so«, sagte Colonel Carbury unwirsch. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Poirot. »Mrs. Lennox Boynton verneinte vorhin ganz entschieden die Möglichkeit, dass ihre jüngere Schwägerin dieser Tat schuldig sein könnte. Die Entschiedenheit ihres Einspruchs basierte auf der Tatsache, dass sie wusste, dass ihre Schwiegermutter zu der Zeit bereits tot war. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Ginevra Boynton sich den ganzen Nachmittag im Camp aufhielt. Und es gab einen Moment — den Moment, als Lady Westholme und Miss Pierce das Camp verließen und bevor Dr. Gerard ins Camp zurückkam. « Ginevra machte eine Bewegung. Sie beugte sich vor und sah Poirot mit einem sonderbaren, unschuldigen, verwirrten Blick an. »Ich? Ich soll es getan haben?« Im nächsten Augenblick war sie, mit einer schnellen und unglaublich schönen Bewegung, vom Stuhl aufgesprungen, quer durch das Zimmer zu Dr. Gerard geeilt und neben ihm auf die Knie gesunken. Sie klammerte sich an ihn und sah flehentlich zu ihm auf. »Nein, o nein! Das dürfen Sie nicht zulassen! Sie wollen mich nur wieder einsperren! Es ist nicht wahr! Ich habe nichts getan! Das sind alles meine Feinde — sie wollen mich ins Gefängnis stecken — damit ich nichts sage! Sie müssen mir helfen. Nur Sie können mir helfen!« »Ruhig, Kind, ganz ruhig.« Der Arzt tätschelte ihr begütigend den Kopf. Dann wandte er sich an Poirot: »Was Sie da sagen, ist völliger Unsinn. Absurd!« »Verfolgungswahn?«, fragte Poirot leise. »Ja. Aber sie hätte nie und nimmer so methodisch vorgehen können. Sie hätte ein dramatischeres Mittel gewählt, verstehen Sie? Einen Dolch — irgendetwas Extravagantes, Spektakuläres —, aber niemals diese kaltblütige, besonnene Logik! Ich versichere Ihnen, meine Freunde, es ist so. Dieses Verbrechen war wohl durchdacht — geplant von einem kühlen Verstand.« Poirot lächelte. Dann verbeugte er sich unvermittelt. »Je suis entierement de votre avis«, sagte er verbindlich. Achtzehntes Kapitel »Machen wir weiter«, sagte Hercule Poirot, »wir sind noch nicht am Ende angelangt! Dr. Gerard hat die Psychologie angesprochen. Darum wollen wir nun die psychologische Seite dieses Falles untersuchen. Wir haben die Fakten ermittelt, wir haben den zeitlichen Ablauf der Ereignisse festgelegt, wir haben das Beweismaterial gehört. Bleibt noch — die Psychologie. Und der wichtigste psychologische Aspekt betrifft die Tote selbst — denn die Persönlichkeit von Mrs. Boynton ist in diesem Fall von ausschlaggebender Bedeutung. Nehmen wir Punkt drei und vier meiner Liste der Fakten. Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen. Aber diese beiden Punkte widersprechen sich eklatant! Warum sollte sich Mrs. Boynton ausgerechnet an diesem Nachmittag so völlig wider ihre Natur verhalten? Hatte sie plötzlich ein weiches Herz — den Drang, gütig zu sein? Das erscheint mir, nach allem, was ich gehört habe, höchst unwahrscheinlich! Es muss also einen Grund dafür gegeben haben. Aber welchen? Betrachten wir den Charakter von Mrs. Boynton etwas genauer. Es gibt sehr unterschiedliche Aussagen über sie. Sie war eine tyrannische, rücksichtslose alte Frau — sie war eine Sadistin — sie war die Verkörperung des Bösen — sie war wahnsinnig. Welche dieser Meinungen ist die richtige? Ich persönlich glaube, dass Sarah King der Wahrheit am nächsten kam, als sie in Jerusalem aufgrund einer jähen Eingebung die alte Dame plötzlich als ein höchst bedauernswertes Wesen sah. Und nicht nur bedauernswert, sondern auch bedeutungslos! Versetzen wir uns, sofern wir das können, in den Geisteszustand von Mrs. Boynton. Eine Frau, geboren mit einem ungeheuren Ehrgeiz, mit dem Drang, andere zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Weder sublimierte sie ihr intensives Verlangen nach Macht, noch versuchte sie es im Zaum zu halten. Nein, Mesdames et Messieurs — sie kultivierte es! Aber letzten Endes — hören Sie gut zu! —, auf was lief es letzten Endes hinaus? Sie war gar keine so große Macht! Sie wurde nicht gefürchtet und gehasst weit und breit! Sie war der kleine Haustyrann einer isolierten Familie! Und wie Dr. Gerard mir sagte, begann sie sich zu langweilen — wie das bei jeder alten Dame und ihrem Zeitvertreib irgendwann der Fall ist. Und so versuchte sie, ihre Aktivitäten auszuweiten und sich einen neuen Kitzel zu verschaffen, indem sie ihre Dominanz anfechtbarer machte! Aber das führte zu einem völlig anderen Resultat! Auf dieser Auslandsreise wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie völlig unbedeutend sie war! Und damit kommen wir direkt zu Punkt zehn — den Worten, die sie in Jerusalem zu Sarah King sagte. Denn, sehen Sie, Sarah King hatte den Finger auf die Wahrheit gelegt. Sie hatte die jämmerliche Bedeutungslosigkeit von Mrs. Boyntons Leben klar und schonungslos enthüllt! Und nun achten Sie einmal darauf, was ihre genauen Worte zu Miss King waren. Miss King zufolge sprach Mrs. Boynton >so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehe<. Und ihre genauen Worte waren: >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht. < Diese Worte hinterließen bei Miss King einen starken Eindruck. Die außergewöhnliche Heftigkeit und der raue, laute Ton, in dem sie gesagt wurden, beeindruckten sie so sehr, dass sie die außerordentliche Bedeutung dieser Worte überhaupt nicht erfasste! Sie erkennen die wahre Bedeutung dieser Worte?« Er wartete einen Moment. »Offenbar nicht. Aber, mes amis, merken Sie denn nicht, dass diese Worte auf keinen Fall eine vernünftige Antwort waren auf das, was Miss King gerade gesagt hatte? >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Das ergibt doch keinen Sinn! Wenn sie gesagt hätte: >Ich vergesse niemals eine Unverschämtheit< oder etwas Ähnliches. Aber nein, sie spricht von einem Gesicht. Das muss einem doch ins Auge springen!«, rief Poirot aus und klatschte in die Hände.  »Diese Worte, die sich scheinbar an Miss King richteten, waren überhaupt nicht für Miss King bestimmt! Sie galten einer anderen Person, jemandem, der hinter Miss King stand.« Er hielt inne und beobachtete die Mienen seiner Zuhörer. »Ja, es springt einem ins Auge! Ich sage Ihnen, das war ein psychologischer Moment im Leben von Mrs. Boynton! Sie war durch eine intelligente junge Frau mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert worden! Sie wurde von blinder Wut erfasst — und in diesem Moment erkannte sie jemanden, ein Gesicht aus der Vergangenheit — ein Opfer, das ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war! Wir sind also wieder bei dem Außenstehenden angelangt. Und jetzt erkennen wir die wahre Bedeutung von Mrs. Boyntons unerwarteter Freundlichkeit an dem besagten Nachmittag. Sie wollte ihre Familie loswerden, weil sie — um es salopp auszudrücken — jemanden in die Pfanne hauen wollte! Sie wollte freie Bahn haben für eine Unterredung mit einem neuen Opfer. Betrachten wir die Ereignisse jenes Nachmittags aus diesem neuen Blickwinkel! Die Familie Boynton geht weg. Mrs. Boynton sitzt oben vor ihrer Höhle. Prüfen wir nun sorgfältig die Aussagen von Lady Westholme und Miss Pierce. Letztere ist keine zuverlässige Zeugin, sie ist unaufmerksam und leicht zu beeinflussen. Lady Westholme dagegen ist eine akribische Beobachterin und weiß genau, was sie gesehen hat. Beide Damen stimmen in einem Punkt überein! Ein Araber, einer der Diener, geht zu Mrs. Boynton, verärgert sie aus irgendeinem Grund und zieht sich eilends zurück. Lady Westholme sagt unmissverständlich aus, dass der Diener vorher im Zelt von Ginevra Boynton war, aber Sie werden sich erinnern, dass Dr. Gerards Zelt direkt neben dem von Ginevra stand. Es ist daher durchaus möglich, dass der Araber in Dr. Gerards Zelt ging.« »Wollen Sie allen Ernstes behaupten«, warf Colonel Carbury ein, »dass einer von meinen Beduinen mit einer Spritze auf die alte Dame losgegangen ist? Das ist doch grotesk!« »Geduld, Colonel Carbury, ich war noch nicht fertig. Einigen wir uns darauf, dass der Araber aus dem Zelt von Dr. Gerard gekommen sein könnte, nicht aus dem von Ginevra Boynton. Aber wie geht es weiter? Die beiden Damen sind sich einig, dass sie sein Gesicht nicht deutlich genug sahen, um ihn identifizieren zu können, und dass sie nicht hörten, was gesprochen wurde. Nun, das ist verständlich. Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und dem Felsvorsprung beträgt etwa zweihundert Meter. Lady Westholme konnte jedoch eine genaue Beschreibung des Mannes geben, detailliert seine abgerissenen Breeches schildern und wie schlampig seine Gamaschen gewickelt waren.« Poirot beugte sich vor. »Und das, meine Freunde, war wirklich sehr merkwürdig! Denn wenn sie weder sein Gesicht sehen noch hören konnte, was gesprochen wurde, dann konnte sie unmöglich den Zustand seiner Breeches und seiner Wickelgamaschen erkennen! Nicht auf zweihundert Meter! Das war ein Fehler, verstehen Sie? Es brachte mich nämlich auf eine seltsame Idee. Warum legte sie solches Gewicht auf die zerrissenen Breeches und die schlampigen Wickelgamaschen? Vielleicht deshalb, weil die Breeches nicht zerrissen und die Gamaschen nicht vorhanden waren? Lady Westholme und Miss Pierce sahen beide den Mann — aber von da, wo sie saßen, konnte keine die andere sehen. Das beweist die Tatsache, dass Lady Westholme nachsehen ging, ob Miss Pierce wach war, und feststellte, dass sie vor dem Eingang ihres Zeltes saß.« »Großer Gott!«, sagte Colonel Carbury und setzte sich ruckartig auf. »Wollen Sie damit sagen, dass —?« »Ich will damit Folgendes sagen. Nachdem Lady Westholme sich vergewissert hatte, was Miss Pierce machte — die einzige Zeugin, die möglicherweise wach war —, ging sie zurück in ihr Zelt, zog Reithosen, Stiefel und einen khakifarbenen Mantel an, machte sich aus ihrem karierten Staubtuch und einem Strang Wolle eine arabische Kopfbedeckung zurecht und ging, solchermaßen gewandet, dreist in Dr. Gerards Zelt, kramte in seiner Reiseapotheke, wählte das passende Medikament, nahm die Spritze, füllte sie und ging dreist hinauf zu ihrem Opfer. Mrs. Boynton war vielleicht eingenickt. Lady Westholme handelte schnell. Sie griff nach ihrem Handgelenk und injizierte das Gift. Mrs. Boynton stieß einen erstickten Schrei aus, versuchte aufzustehen, sank zurück. Der >Araber< lief allem Anschein nach beschämt und bestürzt davon. Mrs. Boynton drohte ihm mit dem Stock, versuchte aufzustehen, fiel in ihren Stuhl zurück. Fünf Minuten später begibt sich Lady Westholme zu Miss Pierce und berichtet ihr von dem Vorfall, dessen Zeugin sie soeben gewesen ist, und prägt Miss Pierce so ihre eigene Version ein. Dann machen die beiden einen Spaziergang, bleiben unterhalb des Felsvorsprungs kurz stehen, wo Lady Westholme der alten Dame etwas zuruft. Sie bekommt keine Antwort — denn Mrs. Boynton ist tot —, aber sie sagt zu Miss Pierce: >Wie unhöflich, einfach nur zu grunzen!< Miss Pierce nimmt ihre Worte für bare Münze, denn sie hat oft gehört, wie Mrs. Boynton eine Bemerkung mit einem Grunzen quittierte. Sie wird notfalls besten Gewissens schwören, das Grunzen tatsächlich gehört zu haben. Lady Westholme hat oft genug mit Frauen wie Miss Pierce in Ausschüssen gesessen, um ganz genau zu wissen, welchen Eindruck ihre eigene bedeutende Stellung und ihre dominierende Persönlichkeit auf solche Frauen machen. Der einzige Punkt ihres Planes, der nicht klappte, war das Zurücklegen der Spritze. Dr. Gerards vorzeitige Rückkehr machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie hoffte, dass er das Fehlen der Spritze nicht bemerkt hatte oder denken würde, er hätte sie übersehen, und so brachte sie sie während der Nacht zurück.« Er schwieg. »Aber warum?«, fragte Sarah. »Warum sollte Lady Westholme die alte Mrs. Boynton umbringen wollen?« »Haben Sie mir nicht erzählt, dass Lady Westholme sich ganz in Ihrer Nähe aufhielt, als Sie in Jerusalem mit Mrs. Boynton sprachen? Mrs. Boyntons Worte waren an Lady Westholme gerichtet. >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Nehmen Sie diese Worte und die Tatsache, dass Mrs. Boynton früher Aufseherin in einem Gefängnis war, und Sie bekommen eine ziemlich gute Vorstellung von der Wahrheit. Lord Westholme lernte seine Frau auf der Rückreise aus Amerika kennen. Lady Westholme war vor ihrer Ehe eine Kriminelle gewesen und hatte eine Gefängnisstrafe verbüßt. Sie sehen das schreckliche Dilemma, in dem sie sich befand? Ihre Karriere, ihre Ambitionen, ihre gesellschaftliche Position — alles stand auf dem Spiel! Welcher Art das Verbrechen war, für das sie eine Haftstrafe verbüßte, wissen wir nicht, werden es jedoch bald erfahren. Aber es muss etwas gewesen sein, das ihre politische Karriere mit einem Schlag beendet hätte, wenn es bekannt geworden wäre. Und bedenken Sie, Mrs. Boynton war keine gewöhnliche Erpresserin! Sie wollte kein Geld. Sie wollte sich damit amüsieren, ihr Opfer eine Zeit lang zu quälen, und dann spektakulär und genüsslich die Wahrheit enthüllen! Nein, solange Mrs. Boynton lebte, war Lady Westholme nicht sicher. Sie folgte Mrs. Boyntons Anweisungen, sich in Petra mit ihr zu treffen. Ich fand es von Anfang an seltsam, dass eine Frau, die so von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt ist wie Lady Westholme, es vorgezogen haben sollte, als einfache Touristin zu reisen. Aber im Stillen sann sie zweifellos über Mittel und Wege nach, um Mrs. Boynton zu ermorden. Sie sah ihre Chance und ergriff sie mutig beim Schopf. Sie machte nur zwei kleine Fehler. Der eine war, dass sie ein wenig zu viel sagte — die Beschreibung der zerrissenen Breeches, die als Erstes meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Der andere war, dass sie Dr. Gerards Zelt verwechselte und zuerst in das blickte, in dem Ginevra im Halbschlaf lag. Daher die Geschichte des jungen Mädchens — halb Einbildung, halb Wahrheit — von einem verkleideten Scheich. Sie stellte es verkehrt herum dar, gehorchte ihrem Instinkt, die Wahrheit zu verdrehen und dramatischer zu machen, doch für mich war dieser Hinweis bezeichnend.« Er hielt wieder kurz inne. »Aber wir werden bald Genaueres wissen. Ich verschaffte mir heute Lady Westholmes Fingerabdrücke, ohne dass sie es bemerkte. Wenn diese an das Gefängnis geschickt werden, in dem Mrs. Boynton früher Aufseherin war, und man sie dort mit den Abdrücken in den Akten vergleicht, werden wir die Wahrheit bald erfahren.« Er brach ab. In der plötzlichen Stille war ein lauter Knall zu hören. »Was war das?«, fragte Dr. Gerard. »Hörte sich an wie ein Schuss«, sagte Colonel Carbury und sprang auf. »Gleich nebenan. Wessen Zimmer ist das eigentlich?« Poirot sagte leise: »Ich habe das Gefühl — es ist das Zimmer von Lady Westholme.« Epilog Auszug aus dem Evening Shout: Mit großem Bedauern geben wir bekannt, dass Lady Westholme, Mitglied des englischen Parlaments, infolge eines tragischen Unfalls ums Leben kam. Lady Westholme, die gern in ferne Länder reiste, hatte stets einen kleinen Revolver bei sich. Beim Reinigen der Waffe löste sich unglücklicherweise ein Schuss. Lady Westholme war auf der Stelle tot. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt Lord Westholme. An einem warmen Juniabend fünf Jahre später saßen Sarah Boynton und ihr Mann im Parkett eines Londoner Theaters. Es gab >Hamlet<. Sarah griff nach Raymonds Arm, als Ophelia auf der Bühne die Worte sprach: Wie erkenn ich dein Treulieb Vor den andern nun? An dem Muschelhut und Stab Und den Sandelschuh’n. Er ist lange tot und hin, Tot und hin, Fräulein! Ihm zu Häupten ein Rasen grün, Ihm zu Füßen ein Stein. Oh! Sarah hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Diese zerbrechliche, umnachtete Schönheit, dieses liebreizende überirdische Lächeln eines Wesens, das Kummer und Leid hinter sich gelassen hat und in Gefilden schwebt, wo nur die flüchtige Illusion noch Wahrheit war. »Sie ist wunderschön.«, sagte Sarah bei sich. Die betörende, melodiöse Stimme, die schon immer diesen wundervollen Klang gehabt hatte, war nun zu einem perfekten Instrument geworden, diszipliniert und moduliert. Als der Vorhang nach dem ersten Akt fiel, sagte Sarah aus voller Überzeugung: »Jinny ist eine großartige Schauspielerin! Einfach großartig!« Nach der Vorstellung traf man sich im Savoy zum Souper. Ginevra, lächelnd und versonnen, wandte sich dem bärtigen Mann an ihrer Seite zu: »Ich war doch gut, Theodore, oder?« »Du warst wunderbar, chérie.« Auf ihren Lippen zeichnete sich ein glückliches Lächeln ab. »Du hast immer an mich geglaubt«, murmelte sie. »Du hast immer gewusst, dass etwas in mir steckt — dass ich die Menschen mitreißen kann.« An einem Tisch in der Nähe saß der Hamlet des Abends und sagte düster: »Sie ist furchtbar manieriert! Dergleichen gefällt den Leuten natürlich, zunächst jedenfalls, aber ich kann nur sagen, das ist nicht Shakespeare. Habt ihr gesehen, wie sie mir meinen Abgang ruiniert hat?« Nadine, die Ginevra gegenübersaß, bemerkte: »Ist es nicht aufregend, in London zu sein und mitzuerleben, wie Jinny die Ophelia spielt und wie berühmt sie ist?« Ginevra sagte leise: »Es war sehr nett von euch, extra herüberzukommen.« »Ein richtiges Familientreffen«, sagte Nadine und blickte lächelnd in die Runde. Dann sagte sie zu Lennox: »Meinst du nicht, dass die Kinder in die Nachmittagsvorstellung gehen könnten? Sie sind doch alt genug dafür und sie möchten so gern Tante Jinny auf der Bühne sehen!« Lennox, ein ganz normaler, gelöst wirkender Lennox mit humorvollen Augen, erhob das Glas. »Auf das junge Paar! Auf Mr. und Mrs. Cope!« Jefferson Cope und Carol erwiderten den Toast. »Der ungetreue Verehrer!«, sagte Carol lachend. »Jeff, du solltest lieber auf deine erste große Liebe trinken, die dir schließlich genau gegenüber sitzt.« »Jeff wird ja richtig rot!«, sagte Raymond fröhlich. »Er lässt sich nicht gern an die alten Zeiten erinnern.« Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich. Sarah fasste nach seiner Hand, und die Düsterkeit verschwand. Raymond sah sie an und grinste. »Mir kommt alles vor wie ein böser Traum.« Eine adrette Gestalt blieb an ihrem Tisch stehen. Hercule Poirot, tadellos und elegant gekleidet, den Schnurrbart stolz gezwirbelt, verbeugte sich würdevoll. »Mademoiselle«, sagte er zu Ginevra, »mes hommages. Sie waren hervorragend!« Alle begrüßten ihn herzlich, machten neben Sarah einen Platz für ihn frei. Poirot strahlte in die Runde, und als sich alle wieder unterhielten, beugte er sich zu Sarah und sagte leise: »»Eh bien, es scheint alles gut zu laufen für la famille Boynton!« »Das haben wir nur Ihnen zu verdanken!«, sagte Sarah. »Er beginnt berühmt zu werden, Ihr Gatte. Ich las heute eine ausgezeichnete Besprechung seines letzten Buches.« »Es ist wirklich gut — auch wenn ich das selber sage! Wussten Sie, dass Carol und Jefferson Cope endlich geheiratet haben? Und Lennox und Nadine haben zwei entzückende Kinder — zwei süße Bengel, wie Raymond immer sagt. Und Jinny — ich glaube, Jinny ist ein Genie.« Sie betrachtete über den Tisch hinweg das wunderschöne Gesicht, umrahmt von dem rotgoldenen Haar, und zuckte plötzlich zusammen. Einen Moment lang war ihr Gesicht sehr ernst. Dann hob sie langsam das Glas an die Lippen. »Sie trinken auf jemanden, Madame?«, erkundigte sich Poirot. Langsam sagte Sarah: »Ich musste auf einmal — an sie denken. Als ich eben Jinny ansah, fiel mir zum ersten Mal — die Ähnlichkeit auf. Sie gleichen sich tatsächlich — nur dass bei Jinny alles hell ist, während bei ihr nur Dunkelheit war.« Auf der anderen Seite sagte Ginevra unvermittelt:    »Arme Mutter. Sie war wirklich sonderbar. Jetzt, wo wir alle so glücklich sind — tut sie mir irgendwie Leid. Sie hat nicht bekommen, was sie sich vom Leben erwartet hatte. Das muss schlimm für sie gewesen sein.« Fast übergangslos begann sie leise mit bebender Stimme einige Zeilen aus »Cymbeline« zu sprechen, während die anderen wie verzaubert der Musik ihrer Worte lauschten: Fürchte nicht mehr Sonnenglut Noch des Winters grimmen Hohn! Jetzt dein irdisch Treiben ruht, Heim gehst, nahmst den Tageslohn.